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Moor

Moor

Titel: Moor
Autoren: Gunther Geltinger
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wischt dir die Libelle so schnell von der Schulter,dass er dich dabei kaum streift. Gefangen, grinst er und hält dir die Faust unter die Nase. Als er langsam die Finger öffnet, liegt das Insekt reglos in seiner Handfläche. Du warst auf alles gefasst, hast das Schlimmste erwartet: seinen Schlag, der dich zu Boden reißt, einen unentrinnbaren Griff, der dich heranzieht, so nah, dass du im ersten Moment seinen Kaugummi-Atem riechst, doch schon im nächsten würde er dich wegstoßen und ins Gestrüpp schleudern, jetzt bist du dran! Seine Rache wäre brutal, grenzenlos seine Wut, dass alle ihm als dem Älteren die Schuld an Tanjas Unfall geben.
    Obwohl nichts an dem spindeligen Tier verletzt scheint, glaubst du es tot. Es ist eine junge Blutrote Heidelibelle, vielleicht erst vor ein paar Tagen geschlüpft; zwar sind Kopfschild, Rücken und die Segmente des Hinterleibs wie bei den meisten Jungtieren gelb gefärbt, doch du erkennst die seltene Art an den schwarzen Beinen, die sie von der Gemeinen Heidelibelle unterscheidet. Keines der filigranen Gelenke ist abgeknickt. Die feingeäderten Häute der Flügelpaare stehen unversehrt vom Körper ab, doch bewegen sie sich nicht, obwohl du Wind auf der Wange spürst. Selbst in den Augen findest du kein Zeichen von Leben, sie wirken aber auch nicht wirklich tot; groß und pupillenlos starren sie ins Leere, aufgefächert zu Abertausenden Einzelblicken, gefangen in einer anderen, um ein Vielfaches verlangsamten Zeit und verborgen hinter einem leicht gläsernen Film, in dem sich die Tiefe des Föhrenwalds spiegelt.
    Das Loch im Dickicht, wo sich die Schneise auf die Ebene öffnet, strahlt nicht mehr; Qualm zieht herein, vermischt sich mit dem Nadelgrün zu einem blinden Dämmer, schluckt jeden Laut. Noch immer pocht in deinem Körper das Druckgefühl, obwohl du plötzlich nicht mehr pinkeln musst. Derdumpfe Schmerz ist nach oben gewandert, staut sich in der Brust, drängt in die Kehle, ein Gefühl unmittelbarer Not wie kurz vor einem Schrei.
    Sie lebt, flüstert er und hebt langsam die Hand, bis die Libelle dicht vor deinem Gesicht steht. Wie du dich leicht nach vorne beugst, siehst du in den Augen eine winzige Bewegung, doch es ist nur dein eigener Schatten, der den Anschein erweckt, als blickte das Insekt dich an. Im selben Moment hebt es ab, zackt über deinen Kopf hinweg und Richtung Straße, ein kleiner, unsteter Punkt, der sich in der Stille auflöst, und es ist das beklemmend Lautlose am Flug der Libelle, das dich aus der Starre reißt.
    Du springst vom Mofa und stolperst den Pfad entlang. Der Brandgeruch wird betäubend, schlägt dich zurück. Du kletterst auf den Haufen, sinkst ein, haschst nach einem herabhängenden Zweig, ziehst dich hoch. Unter dir lodern kniehoch die Flammen. Etwas schnellt an deinem Kopf vorbei, ein Aschefetzen oder vom Hitzesog hochgewirbelte Halme, dann, als du aufblickst, siehst du sie: Libellen, erst zwei, drei, plötzlich mehr, ein ganzer Schwarm, auf der Flucht vor dem Feuer. Sie schießen aus dem Dickicht, schneiden über dich hinweg und verschwinden zwischen den Stämmen, ihre winzigen Leiber kaum sichtbar im Dämmerlicht und ohne jeden Laut.
    Stets hast du geglaubt, den Flug der Libellen hören zu können. Weit draußen in der Ebene, wo schon das Knacken eines Gehölzes an windstillen Tagen einer Detonation gleicht, an den tief in die Torfmulden eingesickerten Tümpeln, deren Wasser, oft mit Staubschlieren oder von einem öligen Film bedeckt, eine Art Membran bildet, die jede kleinste Erschütterung zum Vibrieren bringt, war das einzige Geräusch, daszu dir heraufdrang, der Tanz der Libellen gewesen, vielleicht weniger ein Ton, eher diese im Spiegel des Wassers zur Bewegung gewordene Stimme aus Licht wie das bernsteinfarbene Flackern der Sonnenstrahlen in der Tiefe, das silbrige Blinken der Halme, der rastlose Zug der Wolken darüber, ihre durch die Ebene wandernden Schatten, das ferne Flimmern des Horizonts, ein lastendes Schweigen darin, dein Geheimnis.
    Hannes jagt den Motor hoch und winkt dich herbei. Das Dröhnen schwillt an. Durch eine Lücke zwischen den Kronen siehst du am Himmel den Hubschrauber kreisen, springst vom Haufen ins weiche Moos. Lass uns hier abhauen, ruft Hannes herüber und stülpt sich den Helm auf den Kopf. Du schwingst dich auf den Gepäckträger, doch er startet nicht durch, dreht sich stattdessen um und blickt dich an. In der engen Schale wirkt sein Gesicht noch schmaler, die kleinen, aneinandergedrängten Augen
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