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Monuments Men

Monuments Men

Titel: Monuments Men
Autoren: Robert M. Edsel
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unmittelbar danach sollte die Familie abreisen. Harry beschäftigte sich den Sommer über mit dem Lernen von Hebräisch und Englisch, während die Besitztümer der Familie verschwanden. Einiges wurde an Freunde und Verwandte geschickt, doch der Großteil ihrer persönlichen Habe wurde für die Reise nach Amerika verpackt. Juden durften kein Geld mitnehmen – wodurch die Steuer von 100 Prozent, die für die Ausreise an den deutschen Staat zu entrichten war, bedeutungslos wurde –, aber sie durften einige persönliche Dinge behalten, ein Luxus, der ihnen Ende des Jahres ebenfalls entzogen werden sollte.
    Im Juli wurde der Termin für Harrys Bar-Mizwa auf den Oktober 1938 vorverlegt. Ermutigt durch den erfolgreichen Anschluss Österreichs, drohte Hitler mit Krieg, falls das Sudetenland, ein schmaler Streifen, der nach dem Ersten Weltkrieg der Tschechoslowakei zugeschlagen worden war, nicht Deutschland angegliedert werden würde. Es herrschte eine gedrückte Stimmung. Der Krieg schien nicht nur unausweichlich, sondern auch unmittelbar bevorstehend. In der Synagoge wurde nun häufiger und verzweifelter um den Frieden gebetet. Im August zog die Familie Ettlinger den Bar-Mizwa-Termin für ihren Sohn und ihre Abreise aus Deutschland um weitere drei Wochen vor.
    Im September fuhren Harry und seine beiden Brüder mit dem Zug in das 27 Kilometer entfernte Bruchsal zu einem letzten Besuch bei ihren Großeltern. Das Textilgeschäft war in Konkurs gegangen, und die Großeltern zogen in die Stadt in der Nähe von Baden-Baden um. Oma Oppenheimer bereitete für die Jungen ein schlichtes Mittagessen zu. Opa Oppenheimer zeigte ihnen ein letztes Mal ein paar besondere Stücke aus seiner Sammlung künstlerischer Druckgrafiken. Er war ein großer Kunstliebhaber; seine Sammlung umfasste fast 2000 Arbeiten, überwiegend Exlibris und Druckgrafiken weniger bekannter deutscher Impressionisten aus den späten 1890er- und den ersten 1900er-Jahren. Eines der schönsten Stücke war eine von einem ortsansässigen Künstler angefertigte Arbeit des Selbstporträts von Rembrandt, das im Karlsruher Museum hing. Opa Oppenheimer hatte es häufig bewundert, wenn er zu Vorträgen oder Versammlungen das Museum besuchte, aber jetzt hatte er es seit fünf Jahren nicht mehr gesehen. Harry hatte noch nie einen Blick auf das Original werfen können, obwohl er nur vier Häuserblocks vom Museum entfernt wohnte: Im Jahr 1933 hatte das Museum Juden den Zutritt verboten.
    Nachdem er die Drucke beiseitegelegt hatte, wandte sich Opa Oppenheimer dem Globus zu. »Ihr müsst Amerikaner werden«, sagte er betrübt, »und euer Feind« – er drehte den Globus und legte den Finger nicht auf Berlin, sondern auf Tokio – »werden die Japaner sein.« 6
    Eine Woche später, am 24. September 1938, feierte Harry Ettlinger seine Bar-Mizwa in der prunkvollen Kronenstraßen-Synagoge in Karlsruhe. Die Zeremonie dauerte drei Stunden; Harry trat dabei einmal nach vorn, um aus der Thora zu lesen, und er trug die Passagen auf Althebräisch vor, wie es seit Jahrtausenden der Brauch war. Die Synagoge war voll besetzt. Mit dieser Zeremonie sollte das Erwachsenwerden der jungen Menschen gefeiert und ihrer Hoffnung auf eine bessere Zukunft Ausdruck verliehen werden, doch viele von ihnen sahen keine Möglichkeit mehr, weiter in Karlsruhe zu leben. Sie hatten keine Arbeit mehr, die jüdische Gemeinde wurde schikaniert und eingeschüchtert. Hitler ging das Risiko ein, dass sich die Westmächte gegen ihn stellten. Nach der Feier nahm der Rabbiner Harrys Eltern beiseite und drängte sie, nicht länger zu warten und nicht erst morgen abzureisen, sondern noch am selben Nachmittag mit dem Zug, der um 13 Uhr ging, in die Schweiz zu fahren. Harrys Eltern waren verwundert. Der Rabbi wollte, dass sie am Sabbat, dem Ruhetag, abreisten. So etwas hatte es noch nie gegeben.
    Der Heimweg über zehn Häuserblocks kam ihnen sehr lang vor. Das Festessen, das aus kalten belegten Broten bestand, wurde in einer leeren Wohnung schweigend verzehrt. Die einzigen Gäste waren Oma und Opa Oppenheimer, Harrys andere Großmutter, Jennie, und deren Schwester, Tante Rosa, die bei der Familie eingezogen waren, nachdem die Firma der Gebrüder Ettlinger aufgegeben hatte. Als Harrys Mutter Opa Oppenheimer erzählte, was der Rabbi ihnen geraten hatte, ging der Weltkriegsveteran zum Fenster und blickte hinab auf die Kaiserstraße, wo Dutzende Soldaten in Uniform umherschlenderten.
    »Wenn der Krieg heute anfangen würde«,
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