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Monica Cantieni

Monica Cantieni

Titel: Monica Cantieni
Autoren: Grünschnabel
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Alles. Die, die übrig geblieben waren, sie verstreuten sich in alle Länder. Die, die davonkamen, die wenigen, die Glück hatten. Und Verwandtschaft. Zum Beispiel hier. Blut ist dicker als Wasser. Nämlich: Nichts lässt der Krieg stehen, keinen Stein auf dem andern, kein Bild, wie es war. Vor allem das nicht. Nicht einmal tagsüber und nachts schon gar nicht.
    – Sei froh, dass du nichts weißt vom Krieg, von dem die hier alle nichts wissen, sie haben keine Ahnung.
    Sie sah mich an.
    – Lass uns gehen.
    – Wohin?
    – Unter den größten Baum mit der besten Aussicht.
    Dorthin hatte sie mich noch nie mitgenommen. Bis anhin war sie immer nur allein hingegangen und kam gut gelaunt zurück.
    – Ich mach uns Brote.
    – Und dann gehen wir in den Zoo?
    – Meinetwegen.
    – Und es gibt ein Eis?
    – Und es gibt ein Eis.
    – Und wir gehen auch zu Fast-ohne-Federn?
    – Wenn du meinst: auch zu Fast-ohne-Federn.
    – Ich nehme eine Orange mit für ihn.
    Unter dem größten Baum mit der besten Aussicht gab nichts zu sehen außer Gräber. Meine Mutter war hochzufrieden. Als die letzte Kirchenglocke aufgehört hatte zu bimmeln, holte sie die Brote hervor und wickelte umständlich zwei aus.
    – Von hier oben hat man wirklich den besten Blick . – Meine Beerdigun g –
    Brot krümelte auf ihre Kaninchenfelljacke, sie sprach mit vollem Mund.
    – Auch eins?
    Ich schüttelte den Kopf.
    – Meine Beerdigung wird ein Ereignis, das kann ich dir garantieren. Blumen, so weit das Auge reicht, und mehr Kränze als bei der Nachbarin vom Erdgeschoss werden dort liegen. Sogar Peter Alexander schickt einen, und der größte ist von Gustav Knuth. Alle drängen zum Sarg. Man lässt ihn vorsichtig hinab, ganz vorsichtig, so vorsichtig, als würden sie eine seltene Blume pflanzen, genau so.
    Im größten Baum hinter uns stritten sich Vögel. Sie hielt die Augen geschlossen, saß kerzengerade da wie vor der Höhensonne und breitete die Arme aus. Das Brotpapier flatterte fort.
    – Und dann spielt die Blasmusik den Radetzky-Marsch. Und alle sind gekommen, alle. Ich habe eine sorgfältige Wahl getroffen, das kannst du mir glauben. Denk ja nicht, ich lade jeden ein, es gibt eine Liste, eine kleine, feine Auswahl, und trotzdem platzt der Friedhof aus allen Nähten. Sie stehen sich auf den Füßen herum, stehen bis zum Tor, manche stellen sich sogar auf andere Gräber, das des Hausmeisters sieht schon nach fünf Minuten aus, als hätte man es gepflügt, sogar das lausige Holzkreuz, von dem schon der Lack abgeblättert ist, hält nicht. Sieht ja keiner, wo er hintritt, so verheult, wie alle schon sind. Sie trampeln es in den Matsch. Als hätte nie eins da gestanden, als wäre es nie da gewesen, als wäre er nie da gewesen, unglaublich. Der von der Zeitung steht kopfschüttelnd da, macht ein Foto. Das hat’s hier noch nie gegeben. Wenn man nur alle sehen könnte auf dem Bild. Dafür reicht die Linse im Fotoapparat nicht. Eine andere hat er nicht dabei. Er kommt ja nicht aus Hollywood. Ganz im Gegensatz zu Clark Gable. Der ist in letzter Minute angereist, Johannes Heesters und Cary Grant stehen schon schluchzend am Sarg, Clark ist völlig außer Atem, er verbirgt es gut, schließlich ist er Schauspieler . – Wenn du willst, kannst du dir ein Autogramm geben lassen.
    Sie sah kurz auf mich herab, während sie ihr drittes Butterbrot auswickelte und dann die halbe Stadt umackern ließ für die Hotels der Gäste aus aller Welt, und als das Brot aus war, gab es noch eine Beerdigung am Fuß der Churfirsten mit Kapelle und einen meterlangen, weiß gedeckten Tisch mit Blick auf den Walensee, ein Herr Tony Curtis war begeistert. Dabei zog sie die Kaninchenfelljacke etwas enger um sich und setzte die Sonnenbrille auf, wie es sich gehört bei Beerdigungen.
    – Der Pfarrer kriegt kaum ein Wort heraus. Was soll er auch sagen, allmählich dämmert ihm, er hat so etwas wie eine Erleuchtung, meine Güte, so ein Auflauf, die kommen alle, weil sie wissen, wen sie vor sich liegen haben, e r –
    – Bleiben die Toten für immer hier liegen?
    – Was? Nein. Sie werfen sie weg. Nach fünfundzwanzig Jahren.
    – Warum?
    – Aus Platzgründen.
    – Werf ich dich auch weg, wenn du fünfundzwanzig Jahre tot bist?
    Meine Mutter öffnete die Augen und wischte sich Brotkrümel von der Kaninchenfelljacke. Sie sah mich an.
    – Der Gärtner macht’s.
    – Und dann?
    – Dann bleibt die Erinnerung.
    – Kann man die auch wegwerfen?
    – Nicht wirklich.
    – Kann’s der
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