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Mondschwingen (German Edition)

Mondschwingen (German Edition)

Titel: Mondschwingen (German Edition)
Autoren: Jasper Sand
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einfach unter die Arme geklemmt und sich mit ihnen davongemacht,
doch er wusste, dass es zu viele waren.
    „Drei“ hatte Mortis ihm gesagt, bevor sich
Linus in den Wald geschlichen hatte. „Ich brauch nicht mehr als drei.“
    Drei Geschichten von dreitausend. Was waren
schon drei Bücher? Vigo Bjornborg, dieser elende Bücherbesitzer, der es nicht
verdient hatte einer zu sein, brauchte keine Bibliothek. So dick und so faul
wie er war, verbrachte er ohnehin den ganzen Tag im Bett. Sein Schnarchen drang
durch die Holzritzen im Boden, manchmal glich es einem Schreien, so laut war
es. Der alte Spielmann mit dem Glasauge und dem Holzbein lebte schon lange
allein im Wald, in einem winzigen Haus, wo niemand ihn störte. Es vermisste ihn
auch niemand auf der Frostburg, denn er war ein schrecklicher Flötenspieler
gewesen.
    Stück für Stück schob sich Linus weiter,
sah an den Regalen hinauf und hinab, sein Finger strich über lederne
Buchrücken. Staub wirbelte auf, glitzerte im grauen Licht.
    Die Enttäuschung schnürte ihm die Kehle zu.
Keine Märchenbücher, keine Sagen, keine Fabeln, keine Erzählung, nichts. Nur
philosophische Schinken, über Alles und Nichts. Linus hasste Philosophie -
seinem Vater würden diese Bücher nicht helfen.
    Mortis war ein Geschichtenerzähler ohne
eigene Geschichten, doch das wusste der Frostfürst nicht. Er durfte es nicht
wissen, denn sonst wäre Mortis kein Geschichtenerzähler mehr und sie müssten
die Frostburg verlassen. Ihr Gemach im höchsten Turm, wo es große Betten und
noch größere Kamine gab, dicke Decken überall, sogar Glasscheiben in den
Fenstern. In wenigen Tagen war ein Festbankett des Fürsten, auf dem Mortis eine
Heldensage erzählen sollte, eine, die jeden zum Lachen und zum Weinen rührte,
eine, die von den Waschweibern und Weberinnen am Tag darauf in den Gassen
weitererzählt würde.
    Mortis war zwei Tage lang am Schreibtisch
gesessen und hatte versucht, sich eine Geschichte auszudenken, doch außer ein
paar Tintenkleckse hatte er nichts zustande gebracht. Noch drei Tage, dann war
das Fest auf der Frostburg und der Held in Mortis‘ Geschichte musste endlich
zwischen den Buchdeckeln und Buchstaben zum Leben erwachen.
    Linus strauchelte, taumelte ins Leere und
hielt sich im letzten Moment an einem Regalbrett fest.
    Unter ihm war eine Truhe, verhüllt mit
einem dunkelblauen Tuch, kaum zu sehen in der Dunkelheit, als wolle Bjornborg
sie verbergen. Vorsichtig ließ sich Linus zu Boden fallen – die Holzbretter
knarrten leise. Er hielt inne, wie versteinert stand er da und lauschte, doch
Vigo Bjonrborgs Schnarchen war noch immer allzu deutlich zu vernehmen.
    Als Linus das Tuch von der Truhe zog,
erkannte er Figuren auf dem Deckel, die um ein Feuer tanzten, umgeben von
dunklen Bäumen. Dahinter thronten mächtige Berge. Die goldenen Umrandungen
glänzten im Mondlicht, das schräg durchs Fenster fiel.
      Wind
wehte ins Zimmer und strich Linus kalt übers Gesicht. Kaum hatte er die Truhe
geöffnet, rutschte ihm das Herz vor Freude in die Stiefelspitzen. Da lagen seine
Märchenbücher, manche waren in dunkelroten Stoff verpackt, andere in grünes
Leder. Über jedem Kapitel strahlte ein Bildchen in hunderten Farben, winzige
Pinselstriche zeichneten schöne und hässliche Gesichter, die ihm
entgegenschauten, Fabelwesen mit Hörnern auf den Köpfen, silberne Pferde, die
sich in eisiges Wasser verwandelten – so viel konnte man sehen, wenn man sich
nur lang genug über die Bücher beugte und blätterte.
    Eine Weile lang saß er nur so da, schaute
und staunte, bis ihm auffiel, dass es viel zu ruhig im Haus des Spielmanns war.
Kein Schnaufen, kein Schnarchen, nur Stille.
    Hastig schnappte sich Linus die drei
obersten Bücher, als hinter ihm die Tür aufsprang. Vigo Bjonborg starrte Linus
mit dem echten und dem falschen Auge an. Breitbeinig kam er herangehumpelt, das
Holzbein klopfte auf den Boden, während er den Bücherdieb mit unflätigen
Schimpftiraden übergoss.
    Linus schob sein Diebesgut zittrig unter
den Mantel, erhob sich ein paar Fingerbreit in die Luft und stürzte sich aus
dem Fenster.
      Vigo
Bjornborgs Geschrei war irgendwann vom Trudanwald verschluckt worden, als Linus
weit genug gelaufen war. Über ihm saßen silbrige Baumgeister in den Kronen, sie
summten Lieder und streckten die Hände nach ihm aus. Mortis hatte ihm verboten,
im Wald zu fliegen, nur wenn er Mondlicht trank, durfte er sich kurz erheben,
ein paar Atemzüge lang. „Wenn dich jemand fliegen
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