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Momo

Momo

Titel: Momo
Autoren: Michael Ende
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T. Er betrachtete es mit schrägem Kopf, dann flüsterte er plötzlich: „Ich hab' sie wiedererkannt, die Steine.“
Nach einer weiteren Pause fuhr er stockend fort: „Das waren solche anderen Zeiten, damals, als die Mauer gebaut wurde. – Viele haben da gearbeitet. – Aber zwei waren dabei, die haben die Steine dort hineingemauert. – Es war ein Zeichen, verstehst du? – Ich hab's wiedererkannt.“
Er strich sich mit der Hand über die Augen. Es schien ihn anzustrengen, was er sagen wollte, denn als er nun weitersprach, klangen seine Worte mühsam: „Sie haben anders ausgesehen, die zwei damals, ganz anders.“ Dann stieß er in abschließendem Ton und beinahe zornig hervor: „Aber ich habe uns wiedererkannt – dich und mich. Ich habe uns wiedererkannt!“
Man kann es den Leuten nicht verübeln, daß sie lächelten, wenn sie Beppo Straßenkehrer so reden hörten, und manche tippten sich hinter seinem Rücken an die Stirn. Aber Momo hatte ihn lieb und bewahrte alle seine Worte in ihrem Herzen.
Der andere beste Freund, den Momo hatte, war jung und in jeder Hinsicht das genaue Gegenteil von Beppo Straßenkehrer. Er war ein hübscher Bursche mit verträumten Augen, aber einem schier unglaublichen Mundwerk. Er steckte immer voller Späße und Flausen und konnte so leichtsinnig lachen, daß man einfach mitlachen mußte, ob man wollte oder nicht.
Sein Name war Girolamo, aber er wurde einfach Gigi gerufen.
Da wir den alten Beppo nach seinem Beruf genannt haben, wollen wir es bei Gigi genauso halten, obwohl er überhaupt keinen richtigen Beruf hatte. Nennen wir ihn also Gigi Fremdenführer. Aber wie gesagt, Fremdenführer war nur einer von vielen Berufen, die er je nach Gelegenheit ausübte, und er war es durchaus nicht von Amts wegen. Die einzige Voraussetzung, die er für diese Tätigkeit besaß, war eine Schirmmütze. Die setzte er sofort auf, wenn sich tatsächlich einmal ein paar Reisende in diese Gegend verirrten. Dann trat er mit ernster Miene auf sie zu und bot ihnen an, sie herumzuführen und ihnen alles zu erklären. Wenn die Fremden sich darauf einließen, dann legte er los und erzählte das Blaue vom Himmel herunter. Er warf mit erfundenen Ereignissen, Namen und Jahreszahlen um sich, daß den armen Zuhörern ganz wirr im Kopf wurde. Manche merkten es und gingen ärgerlich davon, aber die meisten nahmen alles für bare Münze und bezahlten deshalb auch in barer Münze, wenn Gigi zuletzt seine Schirmmütze hinhielt.
Die Leute aus der näheren Umgebung lachten über Gigis Einfälle, aber manchmal machten sie auch bedenkliche Gesichter und meinten, es ginge doch eigentlich nicht an, sich für Geschichten, die bloß erfunden seien, auch noch gutes Geld geben zu lassen.
„Das machen doch alle Dichter“, sagte Gigi dann. „Und haben die Leute vielleicht nichts bekommen für ihr Geld? Ich sage euch, sie haben genau das bekommen, was sie wollten! Und was macht es für einen Unterschied, ob das alles in einem gelehrten Buch steht oder nicht? Wer sagt euch denn, daß die Geschichten in den gelehrten Büchern nicht auch bloß erfunden sind, nur weiß es vielleicht keiner mehr?“ Oder ein anderes Mal meinte er: „Ach, was heißt überhaupt wahr oder nicht wahr? Wer kann schon wissen, was hier vor tausend oder zweitausend Jahren passiert ist? Wißt ihr es vielleicht?“
„Nein“, gaben die andern zu.
„Na also!“ rief Gigi Fremdenführer. „Wieso könnt ihr dann einfach behaupten, daß meine Geschichten nicht wahr sind? Es kann doch zufällig genauso passiert sein. Dann habe ich die pure Wahrheit gesagt!“ Dagegen war schwer etwas einzuwenden. Ja, was das Mundwerk betraf, konnte mit Gigi nicht leicht einer fertig werden. Leider kamen allerdings nur sehr selten Reisende, die das Amphitheater besichtigen wollten, und so mußte Gigi häufig andere Berufe ergreifen. Je nach Gelegenheit war er Parkwächter, Trauzeuge, Hundespazierenführer, Liebesbriefträger, Beerdigungsteilnehmer, Andenkenhändler, Katzenfutterverkäufer und noch vieles andere. Aber Gigi träumte davon, einmal berühmt und reich zu werden. Er würde in einem märchenhaft schönen Haus wohnen, umgeben von einem Park; er würde von vergoldeten Tellern essen und auf seidenen Kissen schlafen. Und sich selbst sah er im Glanz seines zukünftigen Ruhms wie eine Sonne, deren Strahlen ihn schon jetzt in seiner Armseligkeit, sozusagen aus der Entfernung, wärmten. „Und ich werde es schaffen!“ rief er, wenn die anderen über seine Träume lachten,
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