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Moloch

Titel: Moloch Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: China Miéville , Michael Moorcock , Paul di Filippo , Geoff Ryman
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ihnen nur die Annahme, dass er unter den gleichen Nöten wie Milagra litt und deshalb entweder in Gritsavage abgestürzt war oder sein überlegenes Wissen genutzt hatte, um eine andere Gemeinde aufzusuchen, in der noch Heroin aufzutreiben war, ganz gleich, wie weit entfernt diese Gemeinde auch sein mochte.
    Die Jahreszeitensonne und die Tagsonne bewegten sich in den flacheren Quadranten ihrer unsichtbaren Schienen, als Diego und Zohar ihre Niederlage eingestanden.
    Zohars Nerven waren bis zum Zerreißen angespannt, was Diego bei seinem normalerweise unerschütterlichen Freund noch nie beobachtet hatte.
    »Was sollen wir machen? Was bloß? Sie wird bald sterben, das sag ich dir. Sie ist für den Entzug nicht stark genug. Ihre Arme sind so in Mitleidenschaft gezogen…«
    »Ganz ruhig, na komm, ganz ruhig!« Diego strengte seinen Verstand an und wurde mit einer letzten, verzweifelten Hoffnung belohnt. Er schreckte vor dem zurück, was er vorschlagen wollte. Er schämte sich so sehr, dass ihm fast schlecht wurde, doch Zohars bemitleidenswerte Miene ließ die Waagschale zwischen den gegensätzlichen Pflichtgefühlen zu dessen Gunsten ausschlagen.
    »Komm mit. Wir werden meinem Vater einen Besuch abstatten. Frag mich nicht nach dem Grund, komm einfach mit.«
    Da sie in Uptown weit von Gaddis Patchens Wohnung entfernt waren, begaben sich Zohar und Diego zum nächstgelegenen Gleiswärts-Eingang zur U-Bahn (alle fünf Blocks fand sich ein Zugang), der zum Bahnsteig nach Downtown führte, einem langen gekachelten Abschnitt, der nur muffig riechende Langeweile verbreitete. Zohar und Diego standen eine Zeit lang schweigend nebeneinander, während sie auf einen der in kurzen Abständen fahrenden Expresszüge warteten. Auf einmal fragte Zohar: »Kannst du dich noch daran erinnern, wie ich mal herausfinden wollte, wie lang die Stadt ist?«
    »Ja, daran kann ich mich erinnern.«
    »Ich kam um drei Uhr morgens mit einem Eimer Farbe und einem Pinsel hierher. Dann markierte ich den letzten Waggon in Fußhöhe mit meinem Namen, ohne dass der Fahrer es sehen konnte. Ich setzte mich auf eine Bank und wartete. Jedes Mal, wenn wieder ein Zug einfuhr, sah ich nach, ob der letzte Wagen meine Markierung aufwies. Ich lebte von Schokoriegeln und Soda aus dem Automaten. An den Tagen darauf brachtest du mir ein paar Sandwiches und heißen Jamoke. Zwischen zwei Zügen schlief ich kurz ein, war aber sofort wach, wenn der nächste einfuhr. Ich weiß genau, dass ich nicht einen einzigen von ihnen verpasst habe. Weißt du noch, wie lange ich durchgehalten habe?«
    »Zwei Wochen.«
    »Ja, genau. Zwei Wochen. Aber meine Markierung habe ich nie wiedergesehen.«
    »Irgendwelche Arbeiter haben die Farbe abgewischt, oder sie haben den Wagen aus dem Verkehr gezogen. Oder er wurde an irgendeiner Endhaltestelle an einen Zug nach Uptown angekoppelt, und deine Markierung wies auf einmal in die andere Richtung.«
    Zohar lächelte flüchtig. »Du hast es bereits vor zwölf Jahren mit diesen Antworten versucht, und ich habe sie dir schon damals nicht abgekauft. Nein, dieser Wagen war auch nach vollen zwei Wochen immer noch mit Ziel Downtown auf dem Weg durch unsere unergründliche Stadt. Davon bin ich fest überzeugt. Das war der Augenblick, als ich es mit der Angst zu tun bekam. Ich wurde von der Gewaltigkeit unserer schrecklichen Existenz überwältigt, und ich habe mich davon nie wieder erholt. Oh, mag sein, dass ich das nach außen hin überspiele, aber an jenem Tag ist etwas in mir zerbrochen.«
    In dem Moment kam ihr Expresszug. Sie stiegen ein und fühlten sich inmitten einer Schar von Mitfahrenden – Arbeiter, Geschäftsleute, Hausfrauen und Kinder – wie Rosinen in einem Kuchen.
    »Weißt du«, meinte Zohar, »an manchen Tagen wache ich auf und habe das Gefühl, dass mein aufgemalter Name noch immer auf diesen Gleisen unterwegs ist und ich ihn mein Lebtag nicht Wiedersehen werde.«
     
    Der Baum vor Diegos Zuhause aus Kindheitstagen hatte Blätter in grünem Überfluss getrieben, doch er wies keine Spuren von Blüten auf, weder Saat noch Hülsen. Nachdem er es einen ganzen Monat vermieden hatte, seinen Vater zu besuchen, fühlte Diego sich schuldig und erleichtert zugleich. Wenn er aber überhaupt etwas vermisste, dann waren es die versprochenen Blüten.
    Vor der Tür zu Patchens Wohnung sagte Diego: »Versuch, den alten Mann lange genug in ein Gespräch zu verwickeln, damit ich an mich nehmen kann, was wir brauchen. Wir können dann auch schnell wieder

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