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Mörikes Schlüsselbein

Mörikes Schlüsselbein

Titel: Mörikes Schlüsselbein
Autoren: Olga Martynova
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Beispiel meine Strümpfe verrutscht waren: ›Was hast du Strümpfe wie eine alte Sarah.‹ Für mich war das einfach so ein Spruch, einmal habe ich das Lisa gesagt: ›Was hast du Strümpfe wie eine alte Sarah.‹ Erst an ihrer Reaktion wurde mir klar, nicht was ich wem gesagt habe, sondern was der Satz überhaupt bedeutet. Das heißt, ich habe verstanden, was ich sagte, erst dadurch, wem ich das sagte.«
    Das gilt also zugleich den Schuhen und dem Zimmernachbarn. Womit aber sollte er recht haben? Na gut.
    »Meine Großmutter hatte das auch, auch einen Lippenstift griffbereit, ich glaube, aus demselben Grund: Luftalarm«, sagte Andreas, erzählte aber nicht, was er als Kind so alles mitbekommen hatte. Um Sarahs Strümpfe nicht unbeantwortet hängen zu lassen, sagte er als Marinas Gastgeber in der deutschen Sprache: »Das ist wie mit ›Kruzitürken‹, wie es der Bayer sagt und dabei wohl auch nicht an Türken denkt.«
    »Sag mal, warum willst du nicht noch ein bisschen draufzahlen und Anspruch auf das Einbettzimmer anmelden?«, sagte Marina, die sich, leichtsinnig wie sie war, eine schicke Privatversicherung ausgesucht hatte und nicht zugeben wollte, dass ein Zweibettzimmer Luxus genug war. Sollte er ihr erzählen, dass er eine leichtsinnige Frau, nämlich sie, hatte; dass seine Mutter in einem teuren Pflegeheim war (das sie zwar noch selbst bezahlen konnte, aber wie lange noch?); dass er zwei Kinder hatte; dass er eine Privatsphäre hatte, die auch Geld kostete. Nein, Letzteres sollte er auf keinen Fall erzählen. Und endlich, dass er es nicht mochte, allein in einem Raum zu bleiben.

    Übrigens. Das Knirschen hieß Laura. Er wusste es jetzt, als hätte sich ein Vorhang lautlos aufgeschoben. Es war im vorigen Herbst. Marina war in Petersburg. Er lud Laura zu einem gemeinsamen Wochenende auf dem Land ein. Morgens roch die herbstliche Sonne nach Frost. Die Grashalme horchten auf den nahen Winter. Mitten im Feld stand eine Scheune, die nur lange Wände hatte. Das Fehlen von kurzen Wänden formte sie in einen Tunnel um. Auf dem Boden sammelten sich tote Marienkäfer. Einige waren orangerot mit schwarzen Punkten, die anderen waren auf dem Schwarzen rot gepunktet. Ein knuspriger Teppich, der unter den Sohlen knirschte: rot-schwarz, schwarz-rot.
    »Ich habe gelesen, Marienkäfer kopulieren bis zu 19 Stunden, dabei sind die Weibchen manchmal tot vor Erschöpfung, die Männchen merken das aber nicht und machen weiter«, sagte Laura: »Stell dir vor, das wären lauter Weibchen unter unseren Stiefeln: von Männchen bis zum Tode geliebt und verlassen.«
    Der Schnee unter den Sohlen = das Geknister der toten Marienkäferweibchen.
    (Ein Kind winkt in Eile von der spätsommerlichen Ostseeküste und läuft Onkel Peter hinterher, der summt:

    Marienwürmchen, Marienwurm,
    flieg nach Marienbrünnchen, Marienbrunn,
    hol uns ’ne Menge Regen nun
    und dann ’ne Menge Sunn

    – oder so ähnlich)

    Sie liebe einen anderen, der sie nicht liebe, den bekannten Schriftsteller Caspar Waidegger, sagte sie, als sie zum ersten Mal in ihrer kleinen Studentenwohnung zusammen frühstückten, Kaffeekanne in der Hand, Haarsträhnen im gesenkten Gesicht. Ich auch , hätte er beinah gesagt, weil er damals noch nicht wusste, wie es mit Marina weitergehen würde (ob er das jetzt weiß?), und überhaupt Lust auf etwas Mitleid hatte. Aber ein Mann darf einer Frau so etwas nicht sagen, dachte er und schwieg, gekränkt. Wie empfindet sie das: Haut an Haut mit der sich langsam reduzierenden Existenz eines alternden Körpers. Er wollte sie immer fragen. Und wagte es nicht.
    Was, wenn er ihr genau so fremdartig fossil vorkäme wie ihm sein Zimmernachbar? Er hob die Augen zum ersten Stockwerk. Auf dem Fenstersims stapelten sich Vorräte, die sein Zimmernachbar dort liebevoll arrangiert und seine Frau noch nicht weggeräumt hatte: Vierecke und Zylinder verschiedener Farben und Größen.
    4.
    »Ich gehe jetzt«, sagte Marina.
    »Nein«, sagte Andreas.
    »Doch«, sagte Marina.
    »Nein«, sagte Andreas.
    »Doch«, sagte Marina, »ich bin noch mit deinen Kindern verabredet, ich habe sie in eine Konditorei eingeladen.«
    »Na gut«, sagte Andreas, »aber was wollt ihr in einer Konditorei?«
    Und Marina sagte: »In den Familienromanen führt man die Kinder des Lebenspartners immer in eine Konditorei. Weißt du das nicht?«
    Noch mehr nervte ihn, dass Marina und Sabine sich so gut verstanden. Sie ging, und die Schneeflocken wurden immer größer und deutlicher, bis
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