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Mörikes Schlüsselbein

Mörikes Schlüsselbein

Titel: Mörikes Schlüsselbein
Autoren: Olga Martynova
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mehr kann. Nur in sehr teuren Hotels vielleicht. Aber ob sie knisterte? Das weiß er nicht mehr. Die Wäsche ist anders geworden, weicher. Als beginne der Schnee zu tauen. Und nicht mehr weiß, sondern bunt, was natürlich eine gewisse Nachlässigkeit beim Waschen/Stärken/Bügeln erlaubt. Womöglich hat er das mit dem Schnee und der Wäsche doch einfach irgendwo gelesen. Trotzdem hat er dieses Geknister schon einmal gehört, und das war nicht so lange her. Er versteht auf einmal, dass es ausgesprochen wichtig ist, wieder zu wissen, welches andere Knistern von diesem Knistern angetastet wurde. Dieses Wissen ist fast da, fast zu sehen, wie hinter Pauspapier, gleich …
    2.
    »Grüß dich, Andreas«, sagte Marina und brachte in den Raum:
    1. endlich den Vornamen;
    2. Kälte von draußen: eine große Menge für das ganze Krankenzimmer plus, komprimiert, von ihren Lippen kurz an die seinen;
    3. zwei Pappbecher Cappuccino.
    Plus viele Sommersprossen und hellrote, wellige Haare über dem schwarzweißen Fischgrätmuster ihres schmalen, geraden Mantels. Das aber übersah er fast, so, wie man das Äußere eines Menschen nicht beachtet, der einem nahe steht. Er hatte sich an sie gewöhnt: an ihre länglichen aufmerksamen Augen, ihren jetzt ungeschminkten Mund, der immer so aussah, als würde sie gleich sprechen:
    »Trink deinen Cappuccino und zieh dich an, wir gehen in den Garten«, sagte sie und hängte ihren Mantel an den Haken neben der Tür.
    Das ist immer so: Wenn er Kaffee trinkt, müssen sie schleunigst nach draußen. Wenn sie draußen sind, müssen sie unbedingt ins Café. Wenn sie zu Hause bleiben, müssen sie Gäste einladen. Und am liebsten ständig verreisen, dachte Andreas, schwieg aber. Auf der anderen Gedankenspur knirschte immer noch der Schnee. Immer mehr hing davon ab, ob er sich daran erinnern würde, wann er das andere Knistern gehört hatte. Ich werde diese Luftnot nie wieder bekommen, wenn ich wieder weiß, was das war , sagte er sich und hatte sofort Angst, dass Atemnot, Schweißausbruch, Schwindel, Händezittern und Panik aller Körperglieder gleich wieder kommen würden, falls er das Rätsel nicht löste.
    »Wir gehen besser in den Garten, solange die Sonne noch da ist«, sagte Marina.
    War vielleicht ihre unruhige Natur schuld, dass er, als sie sich auf stille und unerklärliche Weise vor zwanzig Jahren von ihm getrennt hatte, nichts tun konnte, nur die Situation so annehmen, wie sie war? Oder: er wollte nichts tun, aus Angst vor dieser ihrer Unruhe? Sie glaubt wohl, dass er nichts tun wollte . Als ihr nach zwanzig Jahren wieder danach war, mit ihm zusammen zu sein, fragte er sich, ob es sich lohnte, sich an sie zu gewöhnen. Ob sie länger bei dieser Idee bleiben würde. Für sie wäre es kein Problem, einmal in der Woche, ja öfter sogar, etwas Blödes zu veranstalten, wovon man nicht einmal geträumt hätte, dass man es tun würde.
    »Bist du fertig? Gehen wir?«, sagte Marina.
    Es passte ihm sowieso, er musste den Schnee unter seinen Sohlen wieder hören, um sich an das andere Knistern erinnern zu können.
    Er war bereits im Mantel und am Gehen, als sie das von ihm zugeklappte Buch von Nikolaj Leskow aufschlug und vorlas:

    »Alle wissen: Wenn man keinen Wert darauf legt, ob die Arme und Beine leichter Konstruktion sind, und nicht verlangt, dass jedes Gesicht einen besonderen Ausdruck hat, dann findet man kaum irgendwo in Petersburg so viele frische Gesichter, weiße Schultern und wohlgebaute Brüste, wie wenn du auf der Wassiljewskij-Insel unter ihren tugendhaften Bewohnerinnen deutscher Abstammung bist.«
    Andreas wollte sagen, dass das Buch von einem deutschen Mädchen mit zuckendem Würmchen und sehr besonderem Gesichtsausdruck erzählt, was den von Marina hervorgehobenen ironischen Wendungen widerspricht. Er schwieg aber, es fehlte noch, dass Marina ihn auslachte, er sei wegen dieser Beschreibung der Deutschen beleidigt. Er überlegte sich, ob er den Mantel nun wieder ablegen sollte, um ihr noch im Zimmer die Nachricht mitzuteilen:
    »Es klappt mit dem Forschungssemester. Wir fahren dann zu dir nach Petersburg. Ich werde endlich richtig Zeit und Ruhe für mein Buch haben.«
    Das Sitzen in den Bibliotheken und Archiven von früh bis spät wäre nicht ganz im Sinne der therapeutischen Empfehlungen, aber es würde sich etwas dort finden. Auf jeden Fall eher als hier.
    »Was soll ich in Petersburg«, sagte Marina. »Ich habe gerade erst das gefunden, was ich gerne tue. Endlich mal!«
    Das war
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