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Mörikes Schlüsselbein

Mörikes Schlüsselbein

Titel: Mörikes Schlüsselbein
Autoren: Olga Martynova
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wahr. Unklar war, wie sie überhaupt so lange das Universitätsleben hatte ertragen können. Die Stelle in einem Kulturfonds, die sie seit einem Jahr hatte, passte am besten zu ihr: viel Reisen, viele Menschen, Unrast als Auftrag.
    »Aber du kannst dort bei mir wohnen. Und ich werde dich besuchen. Ich muss sowieso öfter dorthin, wegen ein paar Projekten, du weißt schon. Oh, weißt du was, ich miete mir für die Zeit etwas in Frankfurt, um nicht ständig pendeln zu müssen. Was soll ich in Berlin, wenn du nicht da bist.«
    Gut für sie, dachte er, aber warum muss er immer von Leere umgeben sein, er, der es mag, dass im Hintergrund jemand spricht, atmet, lacht, isst, telefoniert, auch wenn ihn das bei seiner Arbeit stört. Als Sabine und er sich getrennt hatten, hatte er sich sogar überlegt, eine WG zu gründen, mit ein paar Single-Kollegen.
    3.
    »Sie sind mit Ihren neunzig Jahren sehr gut drauf«, sagte seinem Zimmernachbarn die Krankenschwester, eine kleine Russin mit Haar aus schwarzer Zuckerwatte.
    Während der Zimmernachbar seinen Mund langsam zur Antwort auftat, wurden Andreas’ Eingeweide kurz mit heißem Dampf abgebrüht und dann mit schwarzem Eis abgeschreckt. Er schaute nicht zum Betttisch seines Zimmernachbarn, er wusste ohnehin, was dort war (ein Plastikbecher, eine Flasche Mineralwasser, Leibniz-Butterkekse, Tablettenboxen, eine Bibel und eine ungewisse Zahl schlapper, durch die Beichte entschärfter Todsünden: Gestern, als Andreas im Begriff gewesen war, das Krankenzimmer zu verlassen, um sich mit Marina im Krankenhaus-Café zu treffen, war ein Krankenhauspfarrer gekommen, der noch vor dem Frühstück bestellt worden war. Der Zimmernachbar hatte beichten wollen. »Beginnen wir mit dem sechsten Gebot«, hatte Andreas den alten Mann sagen hören und war davongeeilt. Jetzt würde ihn allerdings sehr interessieren, was der alte Mann zum siebten Gebot gesagt hatte und ob überhaupt).
    Er wusste auch, was dort nicht war (ein Fünfzigeuroschein).
    Will der alte Mann, der seinen Mund nun zum Sprechen geöffnet hat, den Diebstahl melden?
    »So eine nette Krankenschwester sind Sie«, sagte der Zimmernachbar mit einer aus Papier hergestellten Stimme, die zum zerknüllten Pauspapier seiner Haut passte. »Wie heißen Sie?«
    Pauspapier , dachte Andreas, was war das eben gleich mit Pauspapier?
    »Ljuba Rappoport«, die Krankenschwester sammelte die leeren Tablettenboxen auf das Tablett.
    »Seltsam«, sagte der Zimmernachbar. »In meiner Jugend, noch vor dem Krieg, habe ich so viele Rappoports gekannt. Und dann nicht mehr. Interessant.«
    Die beiden Frauen tauschten Blicke und lachten. Der Zimmernachbar nickte zustimmend und zufrieden, wie einer, dem ein Witz gelungen ist.
    Was war da aber zu lachen, wollte Andreas wissen, als Marina und er endlich zwischen den rechteckig geschnittenen und weiß bedeckten Rosenhecken gingen. Der alte Mann hatte keinen Schimmer, was er gerade gesagt hatte.
    »So ein unschuldiger Schuft«, sagte Marina zerstreut. Sie musste sich sehr konzentrieren, um mit ihren hohen Absätzen über die bereits kompakte, aber immer noch frische Schneeschicht zu laufen.
    »Wieso hast du bei diesem Wetter diese Schuhe an?«, sagte Andreas, der keine Lust mehr hatte, den alten Mann zu verteidigen.
    »Ja, ja«, sagte Marina, »du hast recht.« Was meinte sie nun, die sonst immer glaubte, recht zu haben, den alten Mann oder die Schuhe? »Doch weißt du was, abgesehen davon, dass ich so klein bin, man muss sich anstrengen, keine Ahnung, auf sich achten. Meine Großmama hatte immer einen Lippenstift auf dem Nachttisch, eine Gewohnheit seit dem Krieg. Wenn sie im Schlaf von Bombenalarm überrascht wurde, konnte sie auf dem Weg zum Bombenkeller noch die Lippen nachziehen, um anständig auszusehen , oder, wie es bei ihrer Aushilfsfrau hieß, um nicht auszusehen wie eine alte Sarah . Stell dir vor, sie hatte immer eine Aushilfsfrau. Sogar als sie gehungert hatte, in den 30ern, nach dem Tod meines Großvaters, als sie Schmuck und Tafelsilber gegen Brot tauschen musste, hat sie ein Dienstmädchen gehabt. Sie war stolz darauf. Mich als Kind hat das befremdet, wenn nicht sogar empört, ich dachte, man kann eher darauf stolz sein, dass man für sich selbst sorgen kann. Das ist auch heute so, ich fühle mich fast unwohl, wenn deine Polin kommt, beschämt, dass sie schmutzige Arbeit erledigt, während ich ein Buch lese. Egal. Das Buch zu lesen ist meine Arbeit. Die Aufwartefrau meiner Großmutter sagte mir, wenn zum
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