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Moerderische Fracht

Titel: Moerderische Fracht
Autoren: Lukas Erler
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ihre dreckigen Geschäfte nicht woanders planen? Aber sie benutzten seine Wohnung, weil sie unauffällig war. Und warum war sie das? Weil sie einer unauffälligen, unwichtigen und erbärmlichen Kakerlake wie ihm gehörte.
    Einen winzigen Augenblick verspürte er den verrückten Impuls, unter dem Bett hervorzukriechen, in das Wohnzimmer zu stürmen und sie alle rauszuschmeißen. Aber das war unmöglich. Ein einziges Mal hatte er es gewagt, sich gegen Wassily aufzulehnen, und das war eine sehr schmerzhafte Erfahrung gewesen. Sein Schwager hatte ihn nicht einfach nur verprügelt, sondern ihn mit System und handwerklicher Präzision so zusammengeschlagen, dass er eine Woche lang weder laufen noch essen konnte.
    In der Küche wurde jetzt Tee gekocht und der Kühlschrank inspiziert. Selbstverständlich würden sie sich den letzten Wodka nehmen, der noch da war. Er konnte vier Stimmen unterscheiden, die alle durcheinander redeten, aber Wassily führte zweifellos das große Wort. Schließlich waren alle wieder im Wohnzimmer.
    Er hörte das Klacken von Feuerzeugen und roch die würzigen Zigaretten. Dann das Klingen von Gläsern, die aneinandergestoßen wurden.
    »Auf Schamil Bassajew«, sagte eine Stimme, »möge seine Seele jubilieren, wenn er uns zusieht.«
    Natürlich wusste er, wer Schamil Bassajew war. Jeder Tschetschene wusste das. Der große Freiheitskämpfer des tschetschenischen Volkes war im Sommer 2006 getötet worden. Weil er für die Russen ein ganz gewöhnlicher Terrorist war, dachte er und schämte sich für diesen Gedanken.
    »Und auf Ajsa Gasujewa«, sagte jetzt die Stimme seines Schwagers.
    Auf die würde ich auch trinken.
    Ajsa Gasujewa aus Urus-Martan hatte im Alter von zweiundzwanzig Jahren sich selbst und den russischen General Gadschijew sowie acht seiner Leibwächter in die Luft gesprengt. Sie war die erste Schahid gewesen, die erste tschetschenische Selbstmordattentäterin, deren Beispiel etliche andere »schwarze Witwen« folgen sollten.
    »Weißt du jetzt etwas Genaueres?«, fragte einer der Männer.
    Instinktiv wusste er, dass die Frage an seinen Schwager gerichtet war.
    »Ja«, sagte Wassily, »es wird am Ende des Sommers geschehen, und es wird das Größte sein, was unser Volk jemals vollbracht hat. Größer als alle Taten der Schahid, größer als der Angriff auf das Musiktheater in Moskau und tausendmal verheerender als Beslan.«
    Er fühlte eine aufsteigende Übelkeit und überlegte verzweifelt, was passieren würde, wenn er sich unter dem Bett übergeben musste. Vor vier Jahren hatte ein tschetschenisches Kommando in Beslan eine Schule überfallen und über tausend Männer, Frauen und Kinder als Geiseln genommen. Mehr als dreihundert von ihnen hatten die Befreiung durch das russische Militär nicht überlebt. Als er im Fernsehen live sehen musste, wie Tschetschenen auf fliehende Schulkinder schossen, hatte er sich die Seele aus dem Leib gekotzt.
    »Bitte, Wassily«, sagte einer der Männer, und seine Stimme hatte einen beinahe flehenden Unterton, »erzähl uns, was du weißt, ich kann die Ungewissheit nicht mehr ertragen.«
    »Wir werden sie ins Herz treffen. In ihr verdammtes, nach Erdöl stinkendes Herz. Erinnert ihr euch an 1989? Als Gorbatschow die Sowjetunion verschleuderte? Armselig haben sie dagestanden, wie die Verlierer der Weltgeschichte, und der Westen hat sich krankgelacht. Und heute? Heute lacht keiner mehr, und Putin lässt ganz Europa nach seiner Pfeife tanzen, wenn er ein bisschen am Gashahn dreht. Gas und Öl haben sie mächtiger denn je gemacht. Für das Gas haben sie die Pipeline, aber das Öl transportieren sie nach wie vor gerne auf Schiffen. Wir werden sie auf dem Meer angreifen. Und zwar an einer Stelle, wo der Schaden unermesslich ist.«
    Die Männer schwiegen ehrfürchtig. Neue Zigaretten wurden angezündet.
    »Allah sei gepriesen!«, sagte schließlich einer der Männer mit gepresster, vor Ungeduld bebender Stimme, »bitte, Wassily, wen wird es treffen?«
    »Alle unsere Feinde. Russland vor allem und das schändliche kleine Land, das es wagte, den Propheten zu schmähen, aber auch das große, kalte, das dem Teufel Putin in den Arsch kriecht, damit der Gaspreis nicht steigt. Die Augen der Welt werden auf uns gerichtet sein.«
    Er hatte jetzt seine Hand vor den Mund gepresst, um das Geräusch seines Atems zu dämpfen, doch die Angst setzte ihm so zu, dass er sowieso kaum Luft bekam. Wassily war ein Schläger und Kleinkrimineller, aber kein Freiheitskämpfer. Er
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