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Moerderische Fracht

Titel: Moerderische Fracht
Autoren: Lukas Erler
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redet.
    Das menschliche Gedächtnis ist so faszinierend wie das Gehirn selbst. In all den Jahren, die ich damit verbracht habe, herauszufinden, wie Erinnerung und Vergessen funktionieren, hat es für mich nichts von dieser Faszination verloren. Wie existenziell notwendig es ist, merkt man, wenn man es verliert, und die Neurologen kennen eine Menge Möglichkeiten, wie es einem abhandenkommen kann. Ein paar davon kenne ich auch, denn die Behandlung von Menschen mit Gedächtnisstörungen ist mein Beruf.
    Die Amnesie nimmt einem alles. Job, Partnerschaft und insbesondere das, was man Erfahrung nennt. Das Wissen um all die Dummheiten, die man überlebt hat. Das Leben eines Menschen ohne Gedächtnis spielt sich dauerhaft innerhalb eines Zeitraumes von wenigen Minuten ab, ohne eine bewusste Vergangenheit und ohne das Gefühl einer persönlichen Kontinuität. Es ist zum Verzweifeln – vorausgesetzt, man erinnert sich daran.
    In letzter Zeit ertappe ich mich dabei, dass ich anfange, meine Patienten zu beneiden – ich glaube nicht, dass das ein gutes Zeichen ist. Mein Gedächtnis ist exzellent, und das ist mein Problem.
    Als ich vor etwa zwei Jahren in einem Brüsseler Café den Plan fasste, den Mörder von Helen Jonas zu töten, war Helens Stimme in meinem Kopf dagegen gewesen: Du weißt schon, dass du völlig verrückt bist, oder? – Nein, dachte ich damals, was ich vorhabe, wird meiner geistigen Gesundheit sehr förderlich sein. Das war ein Irrtum.
    Natürlich war mir klar, dass ich nichts vergessen würde, dennoch habe ich versucht, meine Erinnerungen zum Schweigen zu bringen. Die Möglichkeiten sind vielfältig. Man kann es mit Single Malt probieren, mit Rotwein und Tabletten oder gleich mit dem ganzen Trio. Mit stundenlangen Waldläufen oder zahllosen Überstunden – egal, ich habe es sehr ernsthaft versucht, doch es hat nicht funktioniert.
    Ich erinnere mich.
    »Die Vergangenheit ist nicht tot. Sie ist nicht einmal vergangen.« Kluger Kopf, dieser Mr Faulkner. Helen Jonas ist tot, aber nicht vergangen, denn nach wie vor höre ich ihre Stimme. Der Mann, der sie getötet hat, sitzt schwerbehindert in einem Pflegeheim, weil ich ihm aus Rache eine Überdosis Insulin gespritzt habe. Er wird nie wieder etwas sagen. Hoffe ich. Aber auch er ist nicht vergangen.
    Außerdem war da noch ein Mann, dem ich mit einem Schrotgewehr aus kurzer Distanz durch die Brust geschossen habe. Wenn ich von ihm träume, sehe ich ihn fliegen. Ich sehe, wie er richtig vom Boden abhebt und durch die offene Tür fliegt.
    Diesen Traum habe ich immer zwei Stunden nach Mitternacht. Er beginnt damit, dass Helen und ich miteinander schlafen, und nur Sekunden später sehe ich ihren Leichnam auf einer Bahre in der Hamburger Gerichtsmedizin. Plötzlich bricht der Mann mit dem riesigen Revolver durch die Tür, die Waffe schwenkt in meine Richtung, und ich drücke ab. Wenn ich in den frühen Morgenstunden aufwache, bilde ich mir ein, den Widerhall des Schusses in meiner Brusthöhle zu spüren.
    Dann liege ich reglos da und starre in die Dunkelheit.

Eins
    16. August
    I
    ch hatte Anna Jonas seit ein paar Wochen nicht mehr gesehen und freute mich auf sie. Wir trafen uns im Englischen Garten. Als sie fröhlich grinsend auf mich zutänzelte, musste ich amüsiert daran denken, dass sie meine Schwägerin geworden wäre, wenn ihre Schwester mich geheiratet hätte. Aber das war natürlich kompletter Blödsinn. Helen hätte mich niemals geheiratet, und es gab wohl kaum jemanden, auf den das biedere Wort Schwägerin weniger passte als auf Anna.
    »Hi!«, sagte sie, gab mir einen flüchtigen Kuss und hockte sich neben mich auf die Parkbank.
    Sie sah blendend aus. Schlank, aber nicht mehr so spindeldürr wie vor zwei Jahren, weiße Jeans, rotes Poloshirt und die Haare kurz geraspelt wie Sinead O’Connor in ihren besten Jahren.
    Sie ließ ihren Blick über die zahlreichen Kinder, Hunde, halbnackten Studenten und japanischen Touristen schweifen, die den Park bevölkerten, und gab ein behagliches Knurren von sich.
    »München im Sommer ist spitze. Ich verstehe gar nicht, warum die Eingeborenen um diese Zeit verreisen, wenn sie hier sein könnten.«
    Ich musste daran denken, wie viel Mühe es mich vor zwei Jahren gekostet hatte, Anna dazu zu überreden, nach München zu ziehen. Ich hatte sie in meiner Nähe haben und irgendwie für sie sorgen wollen, was ihr ganz und gar nicht behagte. Du lieber Himmel, ich bin ein Nordlicht! Was soll ich im Land der Lederhosen?
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