Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Mobile

Mobile

Titel: Mobile
Autoren: Andreas Richter
Vom Netzwerk:
Menschen, die hartnäckig und konsequent ihr Ziel verfolgen. Ihre Mission erfüllen. Wirklich, davor ziehe ich meinen Hut. Daher haben Sie es verdient, die Geschichte des Mobiles zu erfahren.« Er räusperte sich kurz. »Sie müssen wissen, ich habe es vor einer Ewigkeit gebaut. Anfänglich waren alle sechs Figuren schlicht gearbeitete und einfache Holzfiguren, die alle gleich aussahen in ihren Schnitzereien und Bemalungen. Sechs gleiche Figuren. Das änderte sich im Laufe der vielen Jahrzehnte, in denen das Mobile auf Reisen war und über den Betten und Schlafstätten kleiner Kinder hing. Alle Kinder, die über einen bestimmten Zeitraum hinweg unter dem Mobile geschlafen haben, kamen in die Situation, in der sich Ihr Sohn im Moment befindet. Sie alle befanden sich in einer Beziehung zu dem Mobile. Mit dem Ergebnis, dass sich nach und nach die Figuren veränderten. Sie wurden individuell. Heute gleicht keine mehr der anderen.«
    »Weil Ablösungen stattgefunden haben«, sagte Michael mit schleppender Stimme. »Eine ursprüngliche Figur nach der anderen wurde durch ein Kind ersetzt. Kinder traten an die Stellen der Holzfiguren. Der Prozess der Ablösung ist abgeschlossen, wenn eine der Holzfiguren ihre Farbe vollkommen verloren hat. Das Kind tritt an die Stelle der Figur, deren Farbe zuvor verblasst ist. Das Kind, das nachrückt, ist dann einf ach ... verschwunden.«
    »Sehr gut, Michael, sehr gut.« George klopfte ihm gönnerhaft auf die Schulter, malte mit dem Stock einen kleinen Kreis in die Luft und sagte: »Dieser Prozess der Ablösung, wie Michael es so trefflich genannt hat, lässt sich mit einem Uhrwerk vergleichen - es geht immer reihum. Eine ursprüngliche Holzfigur wird durch ein Kind ersetzt. Eins, zwei, drei, vier, fünf und ... sechs. Mit der sechsten Figur ist Schluss. Der Kreis ist geschlossen und das Mobile hat seine Aufgabe erfüllt. Dann ist es für mich unnütz geworden.«
    Joachim verstand nicht: »Und wozu das Ganze? Was hat das Mobile davon?«
    »Das Mobile hat nichts davon«, sagte Michael. »Aber er hat eine ganze Menge davon.«
    »Er?«
    »George. Oder wie auch immer er in Wirklichkeit heißt. Er profitiert von der Ablösung.«
    G eorge nickte Michael leicht zu und sagte: »Nun bin ich aber gespannt, Michael. Sehr sogar. Lassen Sie mal hören!«
    Michael sah Joachim an . In seinem Blick standen Verwunderung und Enttäuschung. Er sagte stockend: »Die eigentlichen Lebenserwartungen der Kinder stecken in den Figuren des Mobiles. Wenn in jeder der sechs Figuren das geraubte Leben eines Kindes steckt, ist das Mobile komplett - und dann gehen all diese vielen Jahre über auf ... ihn. Auf George.« Michael schüttelte den Kopf, glaubte seinen eigenen Worten kaum. »Wenn jedes der sechs Kinder fünfundsiebzig Jahre alt werden würde, verlängert er ... George ..., dann verlängert sich sein Leben schlagartig um vierhundertfünfzig Jahre. Er ... erweitert seine eigene Lebenserwartung um die geraubten Lebensjahre der Kinder. Das macht ihn zwar nicht unsterblich, aber kann ihn viele Jahrhunderte alt werden lassen.«
    Joachim starrte Michael fassungslos an. Er war außerstande, auch nur ein einziges Wort heraus zu bringen.
    »Michael«, sagte George und legte die Hand auf Michaels Schulter. »Entweder sind Sie ein besonders heller Kopf oder Sie wissen mehr, als Sie eigentlich wissen dürften.« Nun wandte er sich Joachim zu: »Jo, stellen Sie sich gerade die Frage, auf wessen Seite Michael steht? Hm ... . Ist er auf Ihrer Seite? Auf meiner? Ist er Ihr Freund oder mein Verbündeter? Oder ist er ausschließlich in eigener Sache unterwegs? Fragen Sie sich in dieser Sekunde, ob er von Anfang an mit Ihnen - und somit mit Ihrem Sohn - ein falsches Spiel gespielt hat? Ich will ehrlich zu Ihnen sein, Jo: An Ihrer Stelle würde ich mir diese Frage spätestens jetzt stellen.«
    Joachim sah Michael an und sagte leise: »Ich hatte immer wieder mal Zweifel, und manchmal waren diese Zweifel sehr groß. Aber mittlerweile bin ich fest davon überzeugt, dass er auf meiner Seite ist. Das, was uns augenscheinlich trennt, verbindet uns. Nein, er linkt mich nicht.«
    Ein Anflug von Lächeln umspielte Michaels Mund.
    »Ergreifend«, sagte George mit gespielter Rührung und legte sich theatralisch die Hand aufs Herz. »Doch so wie es aussieht, kann der liebe Michael nun auch nichts mehr ausrichten, Jo. Die Farbe der Holzfigur ist nahezu vollständig verblasst. Ihr kleiner Sohn dürfte gerade seine letzte Nacht als Kind
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher