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Mitternachtskinder

Mitternachtskinder

Titel: Mitternachtskinder
Autoren: Salman Rushdie
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würde in diesem Feuer verbrennen müssen.«
    Ich ließ die Hände sinken. In der Morgendämmerung sah ich Pauls Gesicht vor mir. »Das hat er dir gesagt? Hat er auch erwähnt, dass ich es verbocken würde?«
    Traurig lächelte Paul. »Ja. Er hat gesagt, dass du sie verlassen würdest, ganz gleich, wie sehr du bleiben wolltest – dass du die schmerzlichste Wahl treffen würdest. Und dann hat er erzählt, sobald sie ins Feuer gegangen wäre, müsste ich dableiben, was auch immer passieren würde. Und zuschauen. Also habe ich da auf der Veranda gestanden, und, Mann, um mich rum sind die unglaublichsten Sachen passiert, aber ich bin die ganze Zeit über geblieben. Und habe ihr zugesehen.«
    Mit der Zunge fuhr ich mir über die Lippen. Sie schmeckten nach Asche. »Und?«
    »Von Anfang bis Ende«, sagte Paul.
    Ich starrte ihn an. Ich musste mich zwingen, die Worte halbwegs ruhig klingen zu lassen. »Aber da ist nichts.«
    Paul blickte auf seine Füße hinab. »Er hat gesagt, ich soll graben.«
    Dee erklärte: »Ich helfe euch.«
    Ich hatte nicht einmal gemerkt, dass sie hinter Paul gestanden hatte. Ich sah ihr in die Augen und nickte, denn sagen konnte ich nichts.
    Wir begannen zu graben. Wir scharrten die oberste Schicht weißer Asche beiseite, die trocken, kalt und tot war, und verbrannten uns die Finger an den immer noch glühenden Kohlen darunter. Wir gruben, bis Dee wegen der Hitze aufgeben musste. Und dann gruben wir weiter, bis auch Paul nicht mehr konnte. Und ich wühlte mich tiefer zum heißen Kern des Feuers unter all den Kohlen voran. Meine Haut brannte und warf Blasen, während ich zerfallende, rauchende Kohlen und Holzreste beiseiteschob.
    Ich spürte Fingerspitzen. Und Finger, lang und anmutig, und dann griff ihre Hand nach meiner Hand. Paul packte meinen Arm und zog an mir, und Dee zerrte an ihm, und gemeinsam zogen wir sie heraus.
    Und es war Nuala.
    »Heilige Scheiße«, sagte Paul und wandte sich hastig ab, denn sie war mit Asche beschmiert und splitternackt.
    Sie starrte mich nur an. Ich wollte nicht »Nuala« sagen, denn wenn sie nicht darauf antwortete, würde ich wissen, dass sie mich vergessen hatte. Es war besser, noch diesen Moment lang im Ungewissen zu sein, als Gewissheit zu haben.
    Ich zog mir das Sweatshirt über den Kopf und hielt es ihr hin. »Es ist kalt«, meinte ich.
    »Wie heldenhaft von dir«, entgegnete Nuala sarkastisch. Trotzdem nahm sie es und zog es über. Es reichte ihr bis zur Mitte der Oberschenkel. Der Rest ihrer Beine hatte eine Gänsehaut.
    Ich merkte, dass sie Dee musterte, die neben Paul stand und uns beobachtete. Als Dee auffiel, dass ich sie anschaute, wandte sie sich ab und kehrte uns wie Paul den Rücken zu, als wollte sie uns nicht stören.
    Nuala flüsterte: »Ich dachte, du hättest mich im Stich gelassen.«
    »Es tut mir leid«, sagte ich. Ich rieb mir ein Auge, weil ich plötzlich gern geweint hätte und mir deswegen dumm vorkam. Ich brummte: »Mist, ich habe Asche ins Auge gekriegt.«
    »Ich auch«, gab Nuala zurück, und wir schlangen die Arme umeinander.
    Hinter uns hörte ich Dees Stimme – und dann hörte ich Paul, der zögerlich antwortete: »Das ist ein weiter Weg, aber der einzige, der uns bleibt, oder?«
    Da hatte er recht.

[home]
    James
    H
erzlich willkommen, meine Damen und Herren. Ich bin Ian Everett Johan Campbell, der dritte und letzte. Ich hoffe, Ihre Aufmerksamkeit eine Weile fesseln zu können. Ich muss Ihnen sagen, dass das, was Sie heute Abend sehen werden, absolut real ist. Es mag nicht erstaunlich sein, es mag nicht schockierend oder skandalös sein, aber ich kann Ihnen ohne jeden Anflug von Zweifel versichern: Es ist wahr. Und das … tut mir aufrichtig leid.
    Die Brigid Hall war voll. Auf jedem einzelnen Stuhl saß ein Hintern. Auf manchem Schoß saß eine weitere Person. Ganz hinten bei der Tür stand eine Reihe von Leuten. Die rote Tür war offen, damit sich noch ein paar mehr hereinlehnen und zuschauen konnten.
    Und diesmal fühlte es sich noch wirklicher an als sonst, denn wegen dicker Wolken war es früher dunkel geworden. Das Publikum saß also in pechschwarzer Finsternis. Die Bühne war der einzige feste Boden auf der Welt und wir die einzigen Menschen darauf. Das Leben dort draußen war die Metapher, und wir waren die Wirklichkeit.
    Ich stand als Ian Everett Johan Campbell vor dem Publikum und ließ Eric/Francis verschwinden. Die Zuschauer schnappten nach Luft. Das war nur ein Trick der Bühnenbeleuchtung, aber sehr
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