Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Mitternachtskinder

Mitternachtskinder

Titel: Mitternachtskinder
Autoren: Salman Rushdie
Vom Netzwerk:
Spiegel. Ich schloss einen Moment lang die Augen.
    »Ich spreche nur die Wahrheit«, sagte Eleanor. Sie klang ein wenig gereizt. »Ich kann gar nicht anders.«
    »Du hast mir einen Nachfolger versprochen.« Cernunnos schaute in den Kreis. Ich hatte das Gefühl, dass er nur mich ansah. »Nicht drei.«
    Eleanor hielt das Herz ihres Gefährten hoch. »Tja, die Dinge sind ein wenig aus dem Ruder gelaufen.« Sie sah mich an und schürzte die Lippen. »Ich nehme an, Ihr würdet uns keinen Augenblick Zeit lassen, um das in Ordnung zu bringen?«
    »Die Dinge sind, wie sie sind«, gab Cernunnos zurück. »Der Kreis ist gezogen. Ich bin hier. Drei befinden sich darin, und nichts wird sich hier ändern, bis ein Nachfolger erwählt ist.«
    Eleanor schloss die Augen und öffnete sie wieder. »So
sei
es.«
    Cernunnos rief: »Ich bin der König der Toten. Ich behüte die Toten, und sie behüten mich. Ich habe mir meinen Platz hier verdient. Ich habe die Reihen der Toten gemehrt, ehe ich mich ihnen angeschlossen habe. Sind diese drei würdig? Wer unter den Toten verbürgt sich für sie?«
    Die Toten regten sich, wirbelten durcheinander, arrangierten sich neu.
    Ein dunkler Fleck wuchs vor uns, wie ein verschmierter Fingerabdruck, und eine Stimme drang daraus hervor. Siobhans Stimme. »Ich bin durch die Hand des Pfeifers gestorben.«
    Ein geflügeltes, krabbenartiges Ding kletterte über die Stühle hinweg, und seine Augen leuchteten wie rote Lampen in seinem dunklen Schädel. »Ich bin durch die Hand des Gefährten gestorben.«
    Dee schloss die Augen und drückte die Stirn an meine Schulter.
    Die giftige Wolke, die Linnet war, trieb vorwärts. »Das Kleeauge hat mich ermordet.«
    Ich dachte im Ernst, das müsste eine Lüge sein. Aber es erschien mir ziemlich dumm, Cernunnos zu belügen – selbst für jemanden, der bereits tot war. Ich flüsterte Dee zu: »Stimmt das?«
    Sie schüttelte an meiner Schulter den Kopf. »Sie haben mich hereingelegt. Sie wussten, dass ich jemanden töten musste, damit das hier funktioniert. Sie wollten nur mein Herz, für
ihn

    Ich betrachtete Karre, auf dessen Stirn schillernde Schweißtropfen standen, und erkannte, was Eleanor hatte erreichen wollen. Ich stellte mir einen königlichen Gemahl vor, der zugleich ein Kleeauge und der König der Toten war – die Feen wären dann Verbündete der gierigen Macht, die Delia verschlungen hatte. Sie könnten gehen, wohin sie wollten. Auf einmal erkannte ich, welche Motivation vorhin die grüngekleidete Fee zu mir ans Feuer getrieben hatte.
    »Also seid ihr alle würdig«, sagte Cernunnos. »Doch es kann nur einer herrschen.« Sein Blick blieb an Dee hängen, und mir wurde eiskalt.
    Unvermittelt stieß ich hervor: »Warum braucht Ihr einen Nachfolger?«
    Der gehörnte Kopf wandte sich mir langsam zu. »Ich bin müde, Pfeifer. Ich will dieses Amt niederlegen. Jahrhunderte sind vergangen, seit ich selbst in diesem Kreis stand.«
    »Und so entscheidet Ihr, wer Euch nachfolgt?«, fuhr ich fort. »Wer auch immer in diesen Kreis gestoßen wird oder hineinstolpert, ist mächtig genug,
sie
zu beherrschen?« Ich deutete auf die wogende Masse.
    »Mein Nachfolger wird es lernen«, antwortete Cernunnos, und seine Stimme klang weder zorniger noch leidenschaftlicher, als hätte ich gar nichts gesagt. »Wie ich es gelernt habe. Und mein Nachfolger wird viele Lebensspannen Zeit haben, das zu entdecken, was ich entdeckt habe.«
    »Ihr glaubt also, jeder von uns könnte tun, was Ihr tut?« Ich zeigte auf Karre hinunter. »Er? Wie klug kann einer sein, der in den Kreis kommt und
bereits tot ist?
Und Dee?« Ich trat von ihr zurück und musterte sie. »Sie kann nicht einmal den Gedanken ertragen, dass sie jemanden getötet hat.«
    »Und du?«, fragte Cernunnos.
    »Ich?« Ich zeigte ihm meine mit Worten bedeckten Hände. »Ich kann mich nicht einmal selbst beherrschen, geschweige denn eine Armee von Toten. Und ich bin ein dreister kleiner Klugscheißer, der sich um niemanden außer um mich selbst schert. Da könnt Ihr jeden fragen.«
    Cernunnos neigte das Geweih in meine Richtung. »Das ist nicht die Wahrheit, Pfeifer. Ich weiß, was du im Herzen trägst. Und deshalb erwähle ich dich zu meinem Nachfolger.«
    Es herrschte Schweigen. Kein Laut war zu hören.
    Ich ließ die Hände sinken. Sein Lied summte in meinem Kopf. Ich konnte spüren, wie tot er war, wie fremdartig, wie alt, dunkel und bitter, und all das umströmte mich.
    »Nein«, flüsterte Dee. »Nicht du, James. Du
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher