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Mitternachtskinder: Roman (German Edition)

Mitternachtskinder: Roman (German Edition)

Titel: Mitternachtskinder: Roman (German Edition)
Autoren: Salman Rushdie
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stell mir Fragen! Prüfe mich! Frag mich, wie oft die Lederriemen um die Tragstangen der Sänfte gewickelt wurden – die Antwort lautet: einunddreißigmal. Frag mich, was das letzte Wort des Kaisers war – ich sage dir, es war . Er hatte einen schlechten Atem und ein gutes Herz. Was denkst du denn, wer ich bin? Irgendein gewöhnlicher, unwissender, verlogener, verwilderter Hundebastard? Los, steig jetzt aus dem Boot, deine Nase macht es so schwer, dass man nicht mehr rudern kann, und außerdem wartet dein Vater darauf, meinen Kraftstoff aus dir rauszuprügeln, und deine Mutter, dir die Haut abzukochen.»
    In der Schnapsflasche des Fährmanns Tai sehe ich die Dschinns vorhergesagt, von denen mein Vater besessen war ... und noch einen weiteren kahlköpfigen Ausländer wird es geben ... und Tais Kraftstoff prophezeit einen anderen Stoff, der der Alterstrost meiner Großmutter war und ihr auch Geschichten beibrachte ... und verwilderte Hundebastarde sind nicht weit. Genug. Ich mache mir selbst Angst. Trotz der Prügel und des heißen Wassers glitt Aadam Aziz immer wieder mit Tai in seiner Schikara umher, inmitten von Ziegen, Heu, Blumen, Möbeln, Lotoswurzeln, wenn auch nie mit den englischen Sahibs, und immer wieder hörte er die wundersamen Antworten auf die eine fürchterliche Frage: «Aber Taiji, wie alt bist du, ehrlich ?»
    Von Tai lernte Aadam die Geheimnisse des Sees – wo man schwimmen konnte, ohne von Pflanzen hinabgezogen zu werden; die elf Arten von Wasserschlangen; wo die Frösche laichten; wie man eine Lotoswurzel kocht und wo die drei Engländerinnen wenige Jahre zuvor ertrunken waren. «Es gibt einen gewissen Stamm europäischer Frauen, die zu diesem Gewässer kommen, um zu ertrinken», sagte Tai. «Manchmal wissen sie es, manchmal nicht, aber ich weiß es in dem Augenblick, in dem ich sie rieche. Sie verstecken sich unter dem Wasser vor Gott weiß was oder wem – aber vor mir können sie sich nicht verstecken, Baba!» Tais Lachen erhob
sich und steckte Aadam an – ein gewaltiges, dröhnendes Lachen, das makaber klang, wenn es aus diesem alten, verdorrten Körper herausbrach, bei meinem hünenhaften Großvater aber so natürlich war, dass in späteren Zeiten niemand wusste, dass es nicht wirklich seins war (mein Onkel Hanif erbte sein Lachen, sodass bis zu seinem Tod ein Stück von Tai in Bombay lebte). Und von Tai erfuhr mein Großvater auch etwas über Nasen.
    Tai tippte an sein linkes Nasenloch. «Weißt du, was das ist, Nakkoo? Das ist die Stelle, an der die Außenwelt die Welt in dir trifft. Wenn sie sich nicht vertragen, spürst du es hier. Dann reibst du dir verlegen die Nase, um das Jucken wegzukriegen. So eine Nase, du kleiner Dummkopf, ist eine große Gabe. Ich sage dir: Verlass dich darauf. Wenn sie dich warnt, pass auf, sonst bist du erledigt. Folge deiner Nase, und du wirst es weit bringen.» Er räusperte sich, seine Augen verzogen sich in das Gebirge der Vergangenheit. Aziz lehnte sich ins Stroh zurück. «Ich kannte einmal einen Offizier – in der Armee jenes Alexanders des Großen. Der Name tut nichts zur Sache. Der hatte genauso eine Pflanze wie du zwischen den Augen hängen. Als die Armee bei Gandhara Rast machte, verliebte er sich in eine Schlampe aus der Gegend. Sofort begann seine Nase wie verrückt zu jucken. Er kratzte, aber das war zwecklos. Er inhalierte Dämpfe von zerstampften und gekochten Eukalyptusblättern. Es nützte immer noch nichts, Baba! Das Jucken hat ihn verrückt gemacht, aber der verdammte Narr stemmte die Fersen in den Boden und blieb bei seiner kleinen Hexe, als die Armee nach Hause marschierte. Er wurde – was? – ein Einfaltspinsel, weder das eine noch das andere, nichts Halbes und nichts Ganzes, mit einer nörgelnden Frau und einer juckenden Nase, und am Ende stieß er sich sein Schwert in den Bauch. Was hältst du davon?»
    ... Doktor Aziz, den Rubine und Diamanten zu nichts Halbem und nichts Ganzem gemacht haben, erinnert sich 1915 an diese Geschichte, als Tai in Grußnähe kommt. Seine Nase juckt immer noch. Er kratzt, zuckt die Achseln, wirft den Kopf zurück, und
dann ruft Tai: «Ohé! Doktor Sahib! Die Tochter von Ghani dem Grundbesitzer ist krank.»
    Die barsch ausgerichtete, ohne Umschweife über die Seeoberfläche gerufene Botschaft, ausgesprochen von Frauenlippen, die keinen Lange-nicht-gesehen-Gruß lächeln, obwohl Fährmann und Schüler sich ein halbes Jahrzehnt lang nicht gesehen haben, schickt die Zeit in einen sich
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