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Mitternachtskinder: Roman (German Edition)

Mitternachtskinder: Roman (German Edition)

Titel: Mitternachtskinder: Roman (German Edition)
Autoren: Salman Rushdie
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beschleunigenden, wirbelnden, verschwimmenden Strudel der Erregung ...
    «... Denk dir bloß, Sohn», sagt Aadams Mutter, während sie in einer Haltung resignierter Erschöpfung auf einem Takht ruht und frisches Limonenwasser schlürft, «wie das Leben so spielt. So viele Jahre waren selbst meine Fußknöchel ein Geheimnis, und nun muss ich mich von fremden Menschen anstarren lassen, die noch nicht einmal zur Familie gehören.»
    ... Während Ghani der Grundbesitzer unter einem großen Ölgemälde der Jagdgöttin Diana in verschnörkeltem Goldrahmen steht. Er hat eine dicke dunkle Brille und sein berühmtes boshaftes Lächeln aufgesetzt und redet über Kunst. «Ich habe es von einem vom Pech verfolgten Engländer gekauft, Doktor Sahib. Fünfhundert Rupien nur – und ich habe mir nicht einmal die Mühe gegeben, ihn herunterzuhandeln. Was sind schon fünfhundert Scheinchen? Denn sehen Sie, ich bin ein Liebhaber der Kultur.»
    «... Sieh nur, mein Sohn», sagt Aadams Mutter, als er sie zu untersuchen beginnt, «was eine Mutter nicht alles für ihr Kind tut. Sieh, wie ich leide. Du bist Arzt ... befühle diese entzündeten, diese fleckigen Stellen. Begreife, dass mein Kopf morgens, mittags und abends schmerzt. Füll mein Glas auf, Kind.»
    Aber der junge Doktor ist beim Ruf des Fährmanns in Krämpfe einer höchst unhippokratischen Erregung verfallen und schreit: «Ich komme gleich! Lass mich nur meine Sachen holen!» Der Bug der Schikara berührt den Saum des Gartens. Aadam eilt ins Haus, den Gebetsteppich wie einen Stumpen gerollt unter einem Arm. Seine blauen Augen blinzeln in dem plötzlichen Dämmerlicht drinnen,
den Stumpen legt er auf ein hohes Regalbord auf einen Stapel von Nummern des Vorwärts und Lenins Was tun? und anderer Broschüren, staubiger Widerhall seines halb entschwundenen deutschen Lebens; unter seinem Bett zieht er eine gebrauchte Ledertasche heraus, die seine Mutter seinen Doktori-Koffer nennt, und als er ihn und sich selbst mit Schwung hochreißt und aus dem Zimmer rennt, wird kurz das Wort HEIDELBERG sichtbar, auf dem Boden der Tasche ins Leder gebrannt. Eine Grundbesitzerstochter ist wahrhaftig eine gute Nachricht für einen Arzt, der Karriere machen will, selbst wenn sie krank ist. Nein: weil sie krank ist.
    ... Während ich wie ein leeres Picklesglas im Lichtkegel einer Schwenklampe sitze, heimgesucht von dieser Vision meines Großvaters vor dreiundsechzig Jahren, die aufgezeichnet werden will und meine Nasenlöcher mit dem beißenden Gestank der Verlegenheit seiner Mutter füllt, die ihre Furunkel hervorgebracht hat, mit der essigsauren Kraft von Aadam Aziz’ Entschlossenheit, eine so erfolgreiche Praxis aufzubauen, dass sie nie wieder in das Edelsteingeschäft zurückkehren muss, mit der blinden Muffigkeit eines großen schattigen Hauses, in dem der junge Doktor befangen das Gemälde eines unscheinbaren Mädchens mit lebendigen Augen betrachtet, hinter dem am Horizont wie angewurzelt ein Hirsch steht, durchbohrt von einem Pfeil ihres Bogens. Das meiste von dem, was für unser Leben wichtig ist, findet in unserer Abwesenheit statt: Doch ich scheine irgendwo den Trick gefunden zu haben, die Lücken in meinem Wissen zu füllen, sodass ich alles im Kopf habe, bis zum letzten Detail, so wie zum Beispiel den Dunst, der schräg durch die frühmorgendliche Luft zu treiben schien ... alles, und nicht nur die paar Hinweise, auf die man zufällig stößt, indem man beispielsweise einen alten Blechkoffer öffnet, der spinnwebig und verschlossen hätte bleiben sollen.
    ... Aadam füllt das Glas seiner Mutter nach und fährt besorgt mit der Untersuchung fort. «Streich Salbe auf diese Entzündungen und Flecken, Amma. Gegen die Kopfschmerzen gibt es Tabletten.
Die Furunkel müssen aufgeschnitten werden. Aber wenn du vielleicht Purdah tragen würdest, wenn du im Laden sitzt ... damit keine respektlosen Augen ... solche Beschwerden beginnen oft in der Seele ...»
    ... Das Ruderblatt klatscht ins Wasser. Spucke plumpst in den See. Tai räuspert sich und murmelt böse: «Eine schöne Bescherung. Da geht ein Nakkoo-Kind fort, das noch feucht hinter den Ohren ist, ehe es auch nur das kleinste bisschen gelernt hat, und kommt zurück als großer Doktor Sahib mit einer großen Tasche voll ausländischer Maschinen und ist doch immer noch so dumm wie eine Eule. Das ist eine schlimme Bescherung, ich schwör’s.»
    ... Unter dem Einfluss des Lächelns des Grundbesitzers, in dessen Gegenwart er sich nicht
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