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Mitternachtskinder: Roman (German Edition)

Mitternachtskinder: Roman (German Edition)

Titel: Mitternachtskinder: Roman (German Edition)
Autoren: Salman Rushdie
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Pocken, und ja, sie steht zwischen Arzt und Fährmann und hat sie zu Widersachern gemacht. Doktor Aziz beginnt zu kämpfen, gegen Traurigkeit und gegen Tais Zorn, der beginnt, ihn anzustecken, zu seinem eigenen zu werden, der nur selten ausbricht, aber wenn, dann ohne Vorankündigung und mit Getöse aus seinem tiefsten Innern kommt, alles im Umfeld brachlegt und darauf verschwindet; und er, Aadam, fragt sich, warum jedermann so verstört ist ... Sie nähern sich Ghanis Haus. Ein Träger, der mit verschränkten Händen auf einer kleinen hölzernen Anlegestelle steht, erwartet die Schikara. Aziz konzentriert sich auf die vor ihm liegende Arbeit.
    ...«Ist Ihre Hausärztin damit einverstanden, dass ich komme, Ghani Sahib?» ... Wieder wird eine zögernde Frage leichthin beiseite gewischt. Der Grundbesitzer sagt: «Oh, sie wird schon einverstanden sein. Jetzt folgen Sie mir bitte!»
    ... Der Träger wartet an der Anlegestelle. Hält die Schikara fest, als Aadam Aziz mit der Tasche in der Hand aussteigt. Und nun endlich spricht Tai meinen Großvater direkt an. Mit verachtungsvollem
Gesicht fragt Tai: «Sag mir eins, Doktor Sahib: Hast du in dieser Tasche aus toten Schweinen auch eine von den Maschinen, mit denen die ausländischen Ärzte immer riechen?» Aadam schüttelt verständnislos den Kopf. Der Ekel in Tais Stimme verdichtet sich. «Du weißt schon, Herr, so ein Ding wie ein Elefantenrüssel.» Aziz, der begreift, was er meint, antwortet: «Ein Stethoskop? Natürlich. »Tai stößt die Schikara von der Anlegestelle ab, spuckt aus, beginnt wegzurudern. «Ich wusste es», sagte er. «Nun wirst du so eine Maschine gebrauchen anstatt deine eigene große Nase.»
    Mein Großvater gibt sich nicht die Mühe, zu erklären, dass ein Stethoskop eher einem Ohr als einer Nase gleicht. Er unterdrückt seine Verärgerung, den empörten Zorn eines verstoßenen Kindes, und außerdem wartet ein Patient. Die Zeit kommt zur Ruhe und konzentriert sich auf die Bedeutung des Augenblicks.
     
    Das Haus war luxuriös, aber schlecht beleuchtet. Ghani war Witwer, und das nutzten die Dienstboten deutlich aus. In den Ecken hingen Spinnweben, und auf den Simsen lag der Staub in dicken Schichten. Sie gingen einen langen Flur entlang; eine der Türen stand offen, und dahinter sah Aziz einen Raum in ungezügelter Unordnung. Dieser flüchtige Blick und dann noch ein Glitzern des Lichts auf Ghanis dunkler Brille enthüllten Aziz mit einem Mal, dass der Grundbesitzer blind war. Das verstärkte sein Gefühl des Unbehagens: ein Blinder, der behauptete, europäische Gemälde zu schätzen? Er war aber auch beeindruckt, weil Ghani nichts angerempelt hatte ... Vor einer massiven Teakholztür blieben sie stehen. Ghani, sagte: «Warten Sie hier zwei Sekunden!», und ging in das Zimmer hinter der Tür.
    In späteren Jahren schwor Doktor Aziz, dass er in jenen zwei Sekunden der Einsamkeit in den finsteren Fluren voller Spinnweben im Herrenhaus des Grundbesitzers von dem fast unkontrollierbaren Verlangen gepackt wurde, umzukehren und wegzulaufen, so schnell die Beine ihn trugen. Das Rätsel des blinden Kunstliebhabers hatte
ihn entnervt, sein Inneres war als Ergebnis des heimtückischen Giftes von Tais Gemurmel mit winzigen krabbelnden Insekten erfüllt, seine Nasenlöcher juckten so sehr, dass er überzeugt war, sich eine Geschlechtskrankheit geholt zu haben, und er spürte, wie seine Füße sich so langsam, als steckten sie in Stiefeln aus Blei, zu wenden begannen; er spürte das Blut in den Schläfen pochen, und das Gefühl, an einem Punkt zu stehen, an dem es kein Zurück mehr gab, wurde so übermächtig, dass er beinahe in seine deutsche Wollhose machte. Ohne es zu wissen, errötete er heftig, und in diesem Stadium erschien ihm seine Mutter; sie saß vor einem niedrigen Pult auf dem Boden, und ein Hautausschlag zog sich wie Schamröte über ihr Gesicht, als sie einen Türkis gegen das Licht hielt. Das Gesicht seiner Mutter spiegelte nun die ganze Verachtung des Fährmanns Tai wider. «Geh, geh, lauf», sagte sie ihm mit Tais Stimme. «Mach dir keine Sorgen um deine arme alte Mutter.» Doktor Aziz merkte, wie er stotterte. «Was für einen unnützen Sohn du hast, Amma. Kannst du nicht sehen, dass mitten in mir ein Loch ist, groß wie eine Melone?» Seine Mutter lächelte gequält. «Du warst schon immer ein herzloser Junge», seufzte sie und verwandelte sich dann in eine Eidechse auf der Flurwand und streckte ihm die Zunge heraus. Doktor Aziz hörte auf,
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