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Mitternachtskinder: Roman (German Edition)

Mitternachtskinder: Roman (German Edition)

Titel: Mitternachtskinder: Roman (German Edition)
Autoren: Salman Rushdie
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ist denn so kostbar», verlangt Padma zu wissen und durchteilt mit der rechten Hand erbittert die Luft, aufniederaufnieder, «dass es all diesen Schreibscheiß braucht?» Ich antworte: Nun, da ich die Details meiner Geburt ausgeplaudert habe, nun, da das Laken mit dem Loch zwischen Arzt und Patientin steht, gibt es kein Zurück mehr. Padma schnaubt, schlägt sich mit dem Handgelenk an die Stirn. «Meinetwegen, verhungre doch, verhungre, wen kümmert das schon?» Ein lauteres, endgültigeres Schnauben ... aber ich nehme keinen Anstoß an ihrem Verhalten. Sie verdient ihren Lebensunterhalt, indem sie den ganzen Tag in einem brodelnden Kessel rührt; etwas Heißes und Essigsaures hat sie heute Abend auf Hochdampf gebracht. Mit stämmiger Taille, etwas behaartem Unterarm windet sie sich, gestikuliert, verschwindet. Arme Padma! Alles bringt sie auf die Palme. Vielleicht sogar ihr Name: verständlich genug, denn ihre Mutter erzählte ihr, als sie noch ganz klein war, sie sei nach der Lotosgöttin genannt worden, die bei der Dorfbevölkerung gewöhnlich heißt: «die, die Dung besitzt».
    In der wieder eingekehrten Stille wende ich mich erneut Papierbogen zu, die ein ganz klein wenig nach Gelbwurz riechen – bereit und willens, eine Erzählung, die ich gestern unvollendet ließ, aus
ihrem Elend zu erlösen – so wie Scheherezade, deren Überleben davon abhing, dass Prinz Schehrijar von Neugierde verzehrt wurde, Abend um Abend! Ich beginne auf der Stelle, indem ich enthülle, dass die Vorahnungen meines Großvaters, die ihn in jenem Flur überkamen, nicht unbegründet waren. In den folgenden Monaten und Jahren verfiel er einem Zauber, den ich nur als den magischen Bann dieses riesigen – und bis jetzt noch unbefleckten – Tuches bezeichnen kann.
    «Schon wieder?›, sagte Aadams Mutter und rollte mit den Augen. «Ich sage dir, mein Kind, dieses Mädchen ist bloß deshalb so kränklich, weil es zu verweichlicht lebt. Zu viel Zuckerwerk und zu verwöhnt, weil die strenge Hand der Mutter fehlt. Aber geh, kümmre dich um deine unsichtbare Patientin, deiner Mutter geht es schon ganz gut mit ihrem kleinen Nichts von Kopfschmerz.»
    In jenen Jahren, sehen Sie, zog die Grundbesitzerstochter Naseem Ghani sich eine ganz außerordentliche Reihe leichterer Erkrankungen zu, und jedes Mal wurde ein Schikarabesitzer losgeschickt, um den hoch gewachsenen jungen Doktor Sahib mit der großen Nase zu holen, der sich im Tal so einen guten Ruf erwarb. Aadam Aziz’ Besuche in dem Schlafzimmer mit dem Sonnenstrahl und den drei Ringerinnen wurden zu einem beinahe wöchentlichen Ereignis; und bei jeder Visite wurde ihm durch das verstümmelte Betttuch hindurch ein Blick auf ein anderes fünfzehn Zentimeter großes Körpersegment der jungen Frau gewährt. Auf die anfänglichen Magenschmerzen folgten ein nur ganz leicht verrenkter rechter Knöchel, ein ins Fleisch gewachsener Nagel am großen Zeh des linken Fußes, ein winziger Schnitt im linken Unterschenkel. («Wundstarrkrampf ist mörderisch, Doktor Sahib», sagte der Grundbesitzer. «Meine Naseem darf nicht wegen eines Kratzers sterben.») Da war die Sache mit ihrem steifen rechten Knie, das der Doktor durch das Loch im Laken behandeln musste ... und nach einer Weile wanderten die Krankheiten nach oben, wobei sie gewisse unaussprechliche Zonen vermieden, und begannen, sich
auf ihrer oberen Hälfte fortzupflanzen. Sie litt an etwas Mysteriösem, das ihr Vater Fingerfäule nannte und das die Haut an ihren Händen abschuppen ließ; an schwachen Handgelenken, für die Aadam Kalziumtabletten verschrieb; und an Verstopfungsanfällen, gegen die er Abführmittel verordnete, da es außer Frage stand, dass ihm nicht erlaubt würde, ihr ein Klistier zu verabreichen. Sie hatte Fieber, und sie hatte Untertemperatur. Zu dieser Zeit wurde ihr das Thermometer in die Achselhöhle geklemmt, und er murmelte und brummelte etwas über die Unzulänglichkeit dieser Methode. In der anderen Achselhöhle entwickelte sie einmal einen leichten Anfall von Tinea chloris, und er bestäubte sie mit gelbem Puder; nach dieser Behandlung – die verlangte, dass er den Puder sanft, aber fest einrieb, obwohl der weiche verborgene Körper zu beben und zu zittern begann und Aadam hilfloses Gelächter durch das Betttuch dringen hörte, weil Naseem Ghani sehr kitzlig war – hörte das Jucken auf, aber Naseem fand schnell ein neues Sortiment von Beschwerden. Sie wechselte zwischen Anämie im Sommer und Bronchitis im Winter.
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