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Mitternachtskinder: Roman (German Edition)

Mitternachtskinder: Roman (German Edition)

Titel: Mitternachtskinder: Roman (German Edition)
Autoren: Salman Rushdie
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(«Ihre Bronchien sind äußerst zart», erklärte Ghani, «wie kleine Flöten.») Weit weg schritt der Große Krieg von Krise zu Krise fort, während Doktor Aziz in dem Haus mit den Spinnweben ebenfalls in einen totalen Krieg gegen die unerschöpflichen Beschwerden seiner unterteilten Patientin eingespannt war. Und in all diesen Jahren wiederholte Naseem keine einzige Krankheit.«Was nur beweist», teilte Ghani ihm mit, «dass Sie ein guter Arzt sind. Wenn Sie eine Krankheit heilen, ist sie ein für alle Mal davon geheilt. Aber ach!» – er schlug sich an die Stirn –, «das arme Kind sehnt sich nach seiner verstorbenen Mutter, und sein Körper leidet. Es ist ein zu anhängliches Kind.»
    So bekam Doktor Aziz in seiner Vorstellung allmählich ein Bild von Naseem, eine schlecht zusammenpassende Collage ihrer gesondert untersuchten Teile. Dieses Phantombild einer unterteilten Frau begann ihn zu verfolgen, und das nicht nur in seinen Träumen. Von seiner Vorstellungskraft zusammengeleimt, begleitete sie
ihn auf all seinen Visiten, sie zog in die vorderste Kammer seines Geistes, sodass er im Wachen und Schlafen in den Fingerspitzen ihre weiche kitzlige Haut oder die perfekten winzigen Handgelenke oder die Schönheit ihrer Knöchel spürte; er konnte ihren Duft von Lavendel oder Jasmin riechen; er konnte ihre Stimme und ihr hilf loses Jungmädchengelächter hören; aber sie war kopflos, denn nie hatte er ihr Gesicht gesehen.
    Seine Mutter lag auf ihrem Bett, flach ausgestreckt auf dem Bauch. «Komm, komm her und drück mich», sagte sie, «mein Doktorsohn, dessen Finger die Muskeln seiner alten Mutter lockern können. Drück, drück, mein Kind mit dem Ausdruck einer Gans, die Verstopfung hat.» Er knetete ihre Schultern durch. Sie ächzte, wand sich, entspannte sich. «Tiefer jetzt», sagte sie. «Jetzt höher. Nach rechts. Gut. Mein brillanter Sohn, der nicht erkennt, was der Grundbesitzer Ghani anstellt. So klug ist mein Kind, aber er errät nicht, warum das Mädchen ständig mit so albernen Krankheiten darniederliegt. Hör zu, mein Junge, sieh dir die Nase in deinem Gesicht wenigstens ein einziges Mal an: Dieser Ghani denkt, du bist ein guter Fang für sie. Im Ausland studiert und alles. Ich habe in Läden gearbeitet, und die Augen Fremder haben mich ausgezogen, damit du diese Naseem heiraten sollst! Natürlich habe ich Recht; weshalb sonst würde er auch nur einen zweiten Blick auf unsere Familie werfen?» Aziz massierte seine Mutter stärker. «O Gott, hör auf jetzt, du brauchst mich nicht umzubringen, weil ich dir die Wahrheit sage!»
    Im Jahre 1918 war es mit Aadam Aziz so weit gekommen, dass die regelmäßigen Ausflüge über den See zu seinem Lebensinhalt geworden waren. Und nun wurde er sogar noch eifriger, weil klar wurde, dass nach drei Jahren der Grundbesitzer und seine Tochter willens geworden waren, gewisse Schranken zu senken. Nun sagte Ghani zum ersten Mal: «Ein Knoten in der rechten Brust. Ist das beunruhigend, Doktor? Sehen Sie nach. Sehen Sie gut nach!,› Und dort, von dem Lochrand eingerahmt, war eine vollkommen
geformte und lyrisch schöne... «Ich muss sie anfassen», sagte Aziz mit schier versagender Stimme. Ghani schlug ihm auf den Rücken. «Fassen Sie an, fassen Sie an!», rief er. «Die Hände des Heilers! Die heilende Berührung, was, Doktor?» Und Aziz streckte eine Hand aus ... «Verzeihen Sie meine Frage, aber hat die Dame ihre Tage?» ... Auf den Gesichtern der Ringerinnen erschien ein kleines, unerforschliches Lächeln. Ghani nickte leutselig. «Ja. Seien Sie doch nicht so verlegen, alter Knabe. Wir sind doch jetzt Familie und Arzt.» Und Aziz: «Dann machen Sie sich keine Sorgen. Die Knoten verschwinden, wenn die Tage vorbei sind.» ... Und beim nächsten Mal: «Eine Muskelzerrung hinten an ihrem Oberschenkel, Doktor Sahib. Solche Schmerzen!» Und dort im Laken hing, Aadam Aziz’ Augen schwächend, eine prachtvoll gerundete und unwahrscheinliche Hinterbacke ... Und nun Aziz: «Ist es gestattet ...?»Daraufhin ein Wort von Ghani, eine gehorsame Antwort hinter dem Betttuch, eine Schnur wird gezogen, und Pajamas fallen von dem himmlischen Hinterteil, das sich wundersam durch das Loch wölbt. Aadam Aziz zwingt sich in eine medizinische Geistesverfassung ... streckt die Hand aus ... fühlt. Und schwört verblüfft bei sich, dass er sieht, wie in der Hinterbacke eine scheue, aber entgegenkommende Schamesröte aufsteigt.
    An jenem Abend sinnierte Aadam über das Erröten. Wirkte
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