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Mitternachtskinder: Roman (German Edition)

Mitternachtskinder: Roman (German Edition)

Titel: Mitternachtskinder: Roman (German Edition)
Autoren: Salman Rushdie
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hatte zwei Zähne aus Gold und sonst keine. In der Stadt hatte er nur wenige Freunde. Wenige Fährmänner oder Händler luden ihn ein, eine Huka zu rauchen, wenn er an den Schikara-Liegeplätzen oder einem der vielen baufälligen Proviantläden oder Teebuden am Ufer des Sees vorbeiglitt.
    Die vorherrschende Meinung über Tai hatte Aadam Aziz’ Vater, der Edelsteinhändler, schon vor langer Zeit ausgesprochen. «Der Verstand ist ihm zugleich mit den Zähnen ausgefallen.» (Aber nun saß der alte Aziz Sahib verloren inmitten von Vogelgezwitscher,
während Tai schlicht und erhaben weitermachte.) Diesen Eindruck nährte der Fährmann durch sein Geschwätz, das phantastisch, bombastisch und endlos war und meistens nur für ihn selbst bestimmt. Wasser trägt Geräusche, und die Leute am See kicherten über seine Monologe, aber mit einem Unterton von Ehrfurcht und sogar Angst. Ehrfurcht, weil der alte Schwachkopf die Seen und Hügel besser kannte als jeder seiner Verleumder; Angst, weil er für sich in Anspruch nehmen konnte, so unermesslich alt zu sein, dass sich die Jahre nicht mehr zählen ließen, die zudem so leicht um seinen Hühnerhals hingen, dass es ihn nicht davon abgehalten hatte, eine höchst begehrenswerte Frau zu erobern und mit ihr vier Söhne zu zeugen ... und mit Ehefrauen am See, erzählte man, auch noch weitere. Die jungen Draufgänger an den Anlegestellen der Schikaras waren überzeugt, dass er irgendwo einen Haufen Geld versteckt hatte – einen Vorrat wertvoller Goldzähne vielleicht, die in einem Sack klapperten wie Walnüsse. Jahre später, als Onkel Puffs versuchte, mir seine Tochter anzudrehen, indem er anbot, ihr die Zähne ziehen zu lassen und durch goldene zu ersetzen, dachte ich an Tais vergessenen Schatz ... und als Kind hatte Aadam Aziz ihn geliebt.
    Trotz all der Munkeleien über Reichtum verdiente er sich seinen Lebensunterhalt als einfacher Fährmann, brachte Heu und Ziegen und Gemüse und Holz und auch Menschen gegen Bargeld über den See. Wenn sein Taxidienst in Betrieb war, baute er mitten auf der Schikara einen Pavillon auf, ein buntes Ding aus blumengemusterten Vorhängen und einem Baldachin mit passenden Kissen, und desodorierte sein Boot mit Räucherstäbchen. Der Anblick von Tais Schikara, die sich mit fliegenden Vorhängen näherte, war für Doktor Aziz immer ein charakteristisches Bild für das Nahen des Frühlings gewesen. Bald trafen dann auch die englischen Sahibs ein, und Tai setzte sie zu den Gärten von Shalimar und der Königsquelle über, plaudernd und knochendürr und vornübergebeugt. Er war der lebende Gegenbeweis für Oskar-Ilse-Ingrids Glauben
an die Unvermeidlichkeit der Veränderung ... ein verschrobener, ausdauernder, vertrauter Geist des Tals. Ein Kaliban des Wassers, ein wenig zu sehr dem billigen kaschmirischen Schnaps zugetan.
    Erinnerung an die blaue Wand meines Schlafzimmers: Dort hing neben dem Brief des Premierministers viele Jahre lang der Knabe Raleigh und starrte schwärmerisch auf einen alten Fischer, der so etwas wie einen roten Dhoti trug und auf – was nur? – auf einem Stück Treibholz? – saß und hinaus aufs Meer deutete, während er seine fischigen Geschichten erzählte ... und der Knabe Aadam, der mein Großvater werden sollte, liebte den Fährmann Tai gerade wegen des endlosen Wortschwalls, aufgrund dessen die anderen ihn für übergeschnappt hielten. Es war eine Zaubersprache, Worte, die wie Narrengold aus ihm strömten, an seinen zwei Goldzähnen vorbei, durchsetzt mit Schluckauf und Schnaps, zu den entlegensten Himalajahöhen der Vergangenheit emporstrebten und dann listig niedersausten zu irgendeiner Belanglosigkeit der Gegenwart. Aadams Nase zum Beispiel, deren Bedeutung viviseziert wurde wie eine Maus. Diese Freundschaft hatte Aadam mit großer Regelmäßigkeit in heißes Wasser gestürzt. (Kochendes Wasser. Im wahrsten Sinne des Wortes. Wozu seine Mutter sagte: «Das Ungeziefer dieses Fährmanns bringen wir um, selbst wenn es dich umbringt.») Aber trotzdem kreuzte der alte Soliloquist in seinem Boot vor den Zehenspitzen des Gartens im See, und Aziz saß zu seinen Füßen, bis eine Stimme ihn ins Haus befahl, um ihn über Tais Schmutzigkeit zu belehren und vor den plündernden Armeen von Bakterien zu warnen, die in der Vorstellung seiner Mutter von dem gastfreundlichen alten Körper auf die gestärkten weißen, weiten Pajamas ihres Sohnes übersprangen. Aber immer wieder kehrte Aadam an das Seeufer zurück, um die Nebel nach
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