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Mittelstadtrauschen: Roman (German Edition)

Mittelstadtrauschen: Roman (German Edition)

Titel: Mittelstadtrauschen: Roman (German Edition)
Autoren: Margarita Kinstner
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wegkickt. »Und jetzt erst recht nicht, wegen dem Augendruck.«
    Sie zieht den Kopf wieder zurück. Dabei holt sie sich ein Lächeln aus der Luft, ein Lächeln für den kranken Vater. Sie schließt das Fenster, hebt die leere Zigarettenpackung vom Boden auf und geht in die Küche. Dort riecht es wie vor einer süditalienischen Mülltonne bei vierzig Grad Celsius und Streik der Müllabfuhr. Marie geht zum Herd und hebt den Deckel des Emailgeschirrs hoch. Im Topf tanzen die Fettaugen mit den Schimmelflecken Walzer, alles dreht sich, nicht nur im Topf, auch in Maries Magen, sie rennt aufs Klo, schüttet die Rindsuppe in die Muschel, schluckt im letzten Moment die Säure, die ihr vom Magen hochsteigt, hinunter.
    »Was machst du denn, die Suppe war doch noch gut!«, ruft der Vater.
    Aus dem Wohnzimmer hört Marie das Schnappen seines Feuerzeugs. Sie spült die Suppe hinunter und setzt sich aufs Klobrett. Stellt sich vor, wie es wohl aussähe, wenn der Augendruck die Vateraugäpfel zum Platzen brächte. Ein Plopp, dann Hüpfen über den Teppichboden. Sie lehnt die Stirn gegen die kühlen Fliesen. Bleibt eine Zeitlang sitzen, steht dann auf und geht ins Badezimmer, wo sie nach der Colgate der Großmutter sucht. Der Vater benützt Blendamed. Marie drückt Zahncreme auf den Finger und fährt sich damit über die Zahnreihen.
    Am Abend fahren sie mit der Straßenbahn zum Hauptplatz und kämpfen sich durch das Gedränge. Der Vater murmelt: »Scheiß Touristen, ein Gerempel ist das, das hält ja keiner aus«, in Maries Kopf summt der Erzherzog-Johann-Jodler, den die Großmutter immer so gerne gesungen hat.
Wo i geh und steh, tuat mir das Herz so weh.
    Sie gehen die Sporgasse hinauf, vorbei am Café Sorger, neben dessen Tischen die Mutter damals auf das Kopfsteinpflaster geknallt ist. Im Stadtpark rennen die Kinder gegen Hunde an, werfen ihnen Stöckchen zu und werden gerade noch rechtzeitig von ihren Müttern am Hosenträger zurückgehalten, bevor sie den Hunden in den Teich nachspringen. Wie gerne würde sich Marie zu ihnen setzen, die Schuhe von den Füßen streifen, den Kindern beim Heulen und den Hunden beim Entenjagen zusehen, doch der Vater geht am Parkcafé vorüber, er hasst den Stadtpark, und Mütter mit Kleinkindern hasst er ganz besonders.
    Das Gasthaus, in das sie der Vater führt, ist noch düsterer, als die Großmutterwohnung es ist, seitdem er eingezogen ist. An der Bar steht ein junger Mann, gesenkter Kopf, krummer Rücken, trüber Blick. Starrt in sein Bier, als warte er auf bessere Zeiten. Auf was wartet er, denkt Marie, was soll hier schon passieren?
    Am Stammtisch sitzen Männer und erzählen einander von ihren Seitensprüngen, alle paar Sekunden dröhnt tiefes Männerlachen aus der Ecke. In ihren Erzählungen gleiten sie in Gestalt eines Schwans zur Erde herab, werden die Bierbäuche weggezaubert, sind sie die Götter des Olymp.
    »Wann musst du wieder zum Arzt?«, fragt Marie den Vater, der wie ein trotziges Kind mit der Gabel in den Rindfleischstücken stochert und Brot ins Kernöl bröckelt.
    »Am Freitag.«
    Da schreit auf einmal einer vom Stammtisch herüber: »Wie geht’s der Helga?«
    Marie dreht sich um. Roter Schädel, Walrossbart, den Arm über der Wirtshausbank, die Augen zusammengepresst, das Lachen hinter den Adamsapfel gequetscht. Und auch der Vater quetscht etwas hinter den Adamsapfel, nämlich das Stück Rindfleisch.
    »Das ist meine Tochter, die Laetitia«, sagt er. Seine Stimme, die fest klingen soll, kippt, wie ein ausgekommener Flummi hüpft sein Kehlkopf über Wiesen und Felder, während der Schnauzbart am Nachbartisch weiterbohrt, ekelhaftes Grinsen im fleischigen Gesicht. Sein Blick klebt am Wattebausch des Vaters, Laetitia als Tochter interessiert ihn nicht mehr.
    »Na, hat sie dir die Augen ausgekratzt?«
    »Er hat sich an der Yuccapalme verletzt«, erklärt Marie, als müsse sie den Vater beschützen, dabei gehört er doch zu ihnen, denkt sie, sonst würden sie ihn nicht nach dieser Helga fragen.
    Sie dreht sich wieder um.
    »Wer ist denn die Helga?«
    Helga wäre die erste Frau, die einen Namen trägt, doch der Vater sagt nur »Niemand« und ruft nach dem Kellner.
    Beim Verlassen des Wirtshauses nickt er der Stammtischrunde zu, man nickt zurück und hebt die Hand zum Gruß. Als Marie zur Tür geht, spürt sie die Blicke der Männer, die sich wie Nadelstiche in ihren Rücken bohren.
    In der Wohnung der Großmutter schenkt der Vater Wein ein, zwischen seinen Fingern tanzen grüne
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