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Mittelstadtrauschen: Roman (German Edition)

Mittelstadtrauschen: Roman (German Edition)

Titel: Mittelstadtrauschen: Roman (German Edition)
Autoren: Margarita Kinstner
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dem man die Show gestohlen hat, lustig machen.
    »Glaubst du, das war Joe?«, fragt Marie.
    Sie stehen auf der Schmelzbrücke. Unter ihnen sind die Züge im Ankommen stecken geblieben, jetzt lässt man die Fahrgäste in einer Reihe aussteigen, um sie die letzten Meter im Gänsemarsch neben den Schienen zur Station zu führen.
    »Ich würd’s ihm zutrauen«, sagt Gery und schaut hinauf, zu den dunklen Fenstern und dem Stück Himmel zwischen den Dächern. Dort leuchten die Sterne fast so hell wie im Planetarium.
    Inzwischen wird aus dem Nieselregen in Graz ein heftiger Gewitterregen, der noch in dieser Nacht die Mur erheblich anschwellen lassen wird. Aber davon kann Marie in Wien nichts wissen. Die Welt steht Kopf, die Naturkatastrophen häufen sich und die Tiere werden immer zutraulicher. Kommen in die Stadt und nagen Autokabel und Oberleitungen an. Und manchmal legen sie das Stromnetz einer halben Stadt lahm. Aber irgendwie ist das ja auch schön. Vielleicht nicht für die zwei Autofahrerinnen, die in diesem Moment frontal zusammenstoßen. Die werden Marder für den Rest ihres Lebens so sehr hassen, dass sie sogar einen Marderjagdclub eröffnen. Aber was interessieren uns schon wütende Autofahrerinnen? Zumal ja wirklich nichts Tragisches passiert ist. Außerdem befindet sich die Schicksalskreuzung im sechzehnten Wiener Gemeindebezirk, und die Schmelzbrücke ist ja bekanntlich im fünfzehnten. Und da ist es nicht nur dunkel, sondern auch sehr still. Die Schmelzbrücke ist kein Ort, an dem man anderthalb Stunden vor Mitternacht verweilt. Marie und Gery sind also ganz allein. So allein wie der arme tote Marder im Umspannwerk.
    »Und jetzt?«, fragt Marie und sieht auf den Schlüssel in ihrer linken Hand.
    »Jetzt gehen wir in unsere Wohnung«, sagt Gery.
    Und da passiert es, dass sein Arm auf ihren Schultern zu liegen kommt. Und weil sie sich nicht wehrt, im Gegenteil, fast glaubt er, dass sie sich einen Millimeter auf ihn zubewegt, zieht er sie noch näher an sich heran, so, wie es auch Jakob vor exakt einem Jahr getan hat, nur dass es sich diesmal ganz anders anfühlt. Also legt auch Marie ihren Arm um Gerys Hüfte. Auf der anderen Seite baumelt der Calafati herunter und berührt mit seinem hölzernen Bart Maries rechten Schenkel. Ja, er schaut weg, wie es sich gehört für einen anständigen Chineser, denn man schaut anderen nicht beim Liebhaben zu.
    »Komm«, flüstert Gery. Und gemeinsam gehen sie ans Ende der Brücke, steigen die Stufen zur Zwölfergasse hinunter und gehen zu dem Haus mit der Nummer siebzehn. Dort öffnen sie die angelehnte Tür und steigen kichernd und sich küssend im Dunkeln hinauf.
    Und während sich Gery und Marie in Joes Wohnung, die nun die ihre ist, küssen, suchen die Wiener und Wienerinnen verzweifelt nach Kerzenstummeln vom letzten Adventskranz. Das ist wie in einem Roman, denkt sich so mancher, der sich die Zähne im Flammenschein putzt.
    Als ob einer den Lichtschalter betätigen würde, gehen die Laternen vier Stunden später wieder an. Im sanften Schein, der das Dämmerlicht durchbricht, sieht man einen Schatten am Brückengeländer sitzen. Aus der Brusttasche seines karierten Sakkos lugt eine Zugfahrkarte. Am Boden steht ein alter lederner Koffer, darauf sitzt eine Marionettenpuppe. Ein letztes Mal noch sieht der junge Mann zu einem bestimmten Fenster hinauf, hinter dem sich jetzt der Vorhang bewegt. »Komm«, sagt er dann zu seiner Puppe und hebt sie an ihren Fäden hoch. »Um sieben Uhr geht unser Zug nach Avignon!«

Epilog
    »Bist du wahnsinnig, du kannst doch nicht einfach einen Patienten dort draußen vergessen! In dem Regen!«
    Zwischen Neonröhren und grauem Linoleum herrscht Aufregung. Rotwangige Pfleger und Ärzte mit wirrem Haar rennen durcheinander, mitten unter ihnen ein schlaksiger dunkelhäutiger Mann im weißen Kittel. Und ja, auch seine Backen sind rot, vielleicht sogar noch ein bisschen mehr als die der anderen, nur sieht man es ihm auf der dunklen Haut nicht so an.
    Es ist seine Schuld, dass man Hugos Rollstuhl inmitten von abgebrochenen Ästen und Schlamm gefunden hat.
    »Ich hab ja gleich gesagt, dass das eine Schnapsidee ist, die Komapatienten in die frische Luft zu setzen!«, flucht der Oberarzt.« Jetzt haben wir den Schlamassel!«
    Die Mur oder Mura entspringt in den Hohen Tauern und fließt durch die Steiermark. Was Wien die Donau ist, ist Graz die Mur. Früher ein dreckigbrauner Fluss mit giftiggrünen Schaumblasen, gleicht ihre Farbe heute schon
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