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Mittelstadtrauschen: Roman (German Edition)

Mittelstadtrauschen: Roman (German Edition)

Titel: Mittelstadtrauschen: Roman (German Edition)
Autoren: Margarita Kinstner
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besser«, sagt sie. »Joes Elefanten musste ich damals noch einen halben Tag mit mir herumschleppen.«
    »Und jetzt?«, fragt Gery den Palatschinkenkoch. »Gehen wir jetzt ins Planetarium?«
    »Planetarium? Nein, jetzt gibt’s Kaffee und Sachertorte!«

2  »Das ist komplett verrückt. Das alles muss schweineteuer sein!«
    Marie fährt mit dem Finger über das champagnerfarbene Damasttischtuch. »Ich fühl mich wie Sisi.«
    »Glaubst du, die hat ihren Kaffee auch in einer Riesenradgondel getrunken?«
    »Höchstwahrscheinlich nicht.«
    Zwischen dem Porzellangeschirr liegen weiße Rosen. Die Sessel sind mit Damasthussen überzogen und mit einer grünen Schleife verziert.
    Marie steht auf und stellt sich an eines der Fenster.
    »Vielleicht hast du recht«, sagt sie. »Vielleicht hat mich Joe wirklich geliebt. So was schenkt man niemandem, der einem egal ist. Schon gar nicht in seinem Testament.«
    Gery stellt sich zu ihr. Die Gondel steigt höher hinauf und verharrt wieder eine Weile.
    »Aber warum ich?«
    Marie dreht sich zu ihm. Auf ihrer Stirn liegt eine senkrechte Falte.
    »Du warst sein einziger Freund.«
    Gery sieht aus dem Fenster. Sie sind jetzt am höchsten Punkt, gleich wird sich die Gondel wieder senken. Er denkt an die vielen Leute, die er durch Joe kennengelernt hat. Selbsternannte Philosophen, Biertrinker, Nachtgestalten. Marie hat recht, Joe hatte keine Freunde. Abgesehen von ihm, Marie und vielleicht auch Palicini gab es keinen einzigen Menschen, der Joe mehr bedeutet hat als einer, der gerade zufällig neben ihnen saß und mit dem man bei einem Glas Bier über Gott und die Welt reden konnte. Mittelstadtrauschen, hatte Joe es genannt. Die Menschen rauschen an dir vorbei, und die meisten von ihnen erkennst du schon am nächsten Tag nicht wieder. Mittelstadt, das war seine Bezeichnung für Wien. Weder Metropole noch Kleinstadt – Mittelstadt eben. Und jetzt liegt uns diese Mittelstadt zu Füßen, denkt Gery, als er durch die Eisenstreben sieht. Er wechselt die Seite. Schaut auf die Uno City und die Donau mit ihren künstlichen Seitenarmen. Im Zentrum von allem die laute, bunte Phantasiestadt mit ihren Attraktionen.
    Er sieht zu Marie. Kleine Laetitia Marie. Sie hat Joe geliebt, wie er war, und ist daran zerbrochen. Und er ist im Eck gestanden und hat zugeschaut.
    »Magst du auch Sachertorte?«, fragt er. »Wer weiß, wie lang wir noch Zeit haben.«
    Eine Stunde später sitzen sie auf einer kleinen Holzbank im Kasperlhaus. Palicini hat hinter ihnen Platz genommen und raschelt mit einem Säckchen kandierter Mandeln, das er ihnen vorhin unter die Nase gehalten hat. Hinter dem aufgebauten Kasperltheater hören sie ein Scharren. Als das Licht ausgeht und der erste Ton angestimmt wird, hält Marie die Luft an.
    »Das ist Joe«, sagt sie, und ihre Hände verkrampfen sich im Stoff ihrer Tasche.
    »Joe ist tot«, flüstert Gery. Dabei hat auch sein Herzschlag für ein paar Sekunden ausgesetzt, als jemand angefangen hat, seine Finger über Weingläser rutschen zu lassen und die ersten Takte des Donauwalzers erklungen sind. Gery sieht sich im Dunkeln um, doch er kann nichts erkennen. »Da spielt jemand hinter der Bühne.«
    »Er spielt genau wie Joe«, flüstert Marie.
    Als der Vorhang zur Seite geschoben wird, sehen sie ein kleines Gespenst.
    – Wo bin ich?
    – Im Kasperlhimmel
.
    Und schon sieht man den Kasperl mit seiner roten Zipfelmütze. Langsam lässt er sich nieder, während das Gespenst aufgeregt von einer zur anderen Ecke flattert.
    Marie greift nach Gerys Hand. »Ist das Gespenst Joe?«
    Hinter ihnen hustet Palicini. Wie ein Kind sitzt er da, den Oberkörper nach vorne gebeugt, die Hände um das Papiersackerl mit den süßen Mandeln gelegt.
    – Der Kasperlhimmel. Der ist wohl der richtige für mich
, sagt das Gespenst.
    – Magst hinunterschau

n?
, fragt der Kasperl.
    – Wo hinunter?
    – Na, auf die Erde?
    – Ja, kann man das denn?
    – Alles kann man, wenn man im Himmel ist.
    Das Gespenst setzt sich neben den Kasperl. Beide lassen die Beine baumeln, und Marie denkt, dass Joe jetzt vielleicht wirklich irgendwo dort oben sitzt, so wie er immer auf der Schmelzbrücke gesessen ist, und ihr dabei zusieht, wie sie hier neben Gery sitzt und auf die Kasperlbühne schaut. Erst da fällt ihr auf, dass sie mit der rechten Hand noch immer Gerys linke umklammert. Schnell zieht sie ihre Hand zurück und vergräbt sie im Stoff der Tasche.
    Der Vorhang schließt sich. Im Hintergrund hört man jetzt wieder
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