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Mittelstadtrauschen: Roman (German Edition)

Mittelstadtrauschen: Roman (German Edition)

Titel: Mittelstadtrauschen: Roman (German Edition)
Autoren: Margarita Kinstner
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Vater die Sterne früher so oft erklärt.«
    Wie gern er sie jetzt in den Arm nehmen würde. Sich ein wenig weiter nach links rollen und die Hand auf ihren Bauch legen. Mit der anderen durch ihr Haar fahren und sich in ihren Locken verheddern. Einfach die Hand heben und ihr Gesicht berühren.
    »Warum hat Joe die Wohnung uns beiden geschenkt?«, fragt sie und dreht sich zu ihm.
    »Vielleicht konnte er sich nicht entscheiden, wem von uns er sie geben soll«, sagt er.
    Ganz langsam bewegt sich der Sternenhimmel über ihren Köpfen. Und in das Drehen hinein beginnen sie, einander von ihrem letzten Jahr zu erzählen. Gery berichtet Marie von Hedi, wie er sie kennenlernte, wie gut ihm die Gespräche mit ihr taten und wie er sie schließlich in ihrem Schaukelstuhl fand. Wie er die Rettung rief und den Fahrer des Roten Kreuzes zurück zur Zentrale schickte. Wie er den Karton, den er Hedi zwei Wochen zuvor aus dem Weinviertel mitgebracht hatte, in einen Plastiksack steckte und vor die Kellertür stellte, um ihn danach unbemerkt mitnehmen zu können. Wie er schließlich den Karton geöffnet hat und drei Dinge obenauf lagen: eine Stoffwindel, das Foto eines russischen Soldaten und ein Kuvert mit seinem Namen darauf. Wie er den Umschlag aufriss und siebentausend Euro darin fand. Wie er zwei Wochen später zu Hedis Begräbnis fuhr und von ihrer Familie angestarrt wurde. Wie er am Grab stehen blieb und darauf wartete, dass die anderen weggingen. Wie er schließlich die Windel und das Foto in die Grube geworfen hat und weggegangen ist.
    Marie hört ihm still zu. Denkt sich: Wie gerne ich sie kennengelernt hätte, diese Hedi.
    Dann sagt sie: »Gestern habe ich meinem Vater einen Stein in die Hand gelegt, den wir vor fünfundzwanzig Jahren am Strand gefunden haben.« Und plötzlich ist sie diejenige, die erzählt. Von der Mutter, die sich aus dem Fenster gestürzt hat, und vom Vater, der in einem Pflegeheim in Graz liegt, weil er mit einer Gummipuppe in eine Straßenbahn gelaufen ist.
    »Ich habe mich so oft gefragt, was gewesen wäre, wenn Mama nicht gesprungen wäre. Vielleicht hätten sie sich einfach scheiden lassen.«
    »Warum?«
    »Weil meine Mutter nicht glücklich war in Graz. Wenn sie nicht gesprungen wäre, wäre sie wohl irgendwann wieder heimgefahren. Und mein Vater hätte sie vielleicht vergessen können.«
    »Glaubst du?«
    »Die Liebe bleibt nur so lange groß, solange sie sich nicht erfüllt«, sagt Marie.
    Gery setzt sich auf und sieht auf Maries Gesicht hinunter. Mittlerweile hat er sich so weit an die Dunkelheit gewöhnt, dass er ihre Nase und die Wölbung ihrer Lippen erkennen kann. Mit den Augen ertastet er ihre Konturen – die Konturen, die er so gut kennt, die er sich immer wieder aufgerufen hat, wenn er neben Sonja lag.
    »Stell dir folgende Szene vor«, sagt er. »Julia sitzt mit hochgeknotetem Haar am Kamin und strickt, und Romeo raucht seine Pfeife und liest ihr aus der Zeitung vor. Vorhin haben sie ein wenig gezankt, weil das Essen verbrannt war, aber jetzt blicken sie einander in die Augen und wissen, dass sie sich trotz allem noch immer sehr gern haben und ohne einander nicht sein wollen.«
    »Glaubst du, so was gibt es wirklich?«, fragt Marie.

4  In dem Augenblick, in dem in Graz ein leichter Nieselregen einsetzt, schlüpft ein dreiundsiebzig Zentimeter großes pelziges Tier in ein Umspannwerk der Gesellschaft
Wien Energie
und öffnet zum letzten Mal sein kleines Mäulchen. Es ist zweiundzwanzig Uhr siebenundvierzig. Der Marder beißt zu. Fünftausendvierhundert Haushalte ohne Strom und ein nächtliches Hupkonzert sind die Folge. Jakob, der im Landeanflug über Wien kreist – gerade kommt er von der Konferenz in Helsinki –, hat alles beobachtet. Das Ausgehen der Lichter im westlichen Teil der Stadt wirkt, als hätte jemand einen Schalter betätigt. Und auch im Aufnahmestudio des österreichischen Privatfernsehsenders gehen die Lichter aus. Burning Herbies Keyboard verstummt und auch Mimi ist leise. Sonja bleibt mit der Chipstüte vor dem schwarzen Flachbildschirm sitzen und greift nach der Fernbedienung. Erst als diese auf ihr Drücken nicht reagiert, wird ihr auffallen, dass es auch sonst auf einmal sehr still ist im Haus. Sie wird die Eingangstür öffnen, gleichzeitig mit ihrem Nachbarn, und sie werden feststellen, dass sie beide das gleiche Programm gesehen haben. Der Nachbar wird sie auf ein Glas Rotwein einladen, und sie werden sich bei Kerzenschein über den singenden Typ im Fernseher,
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