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Mittelstadtrauschen: Roman (German Edition)

Mittelstadtrauschen: Roman (German Edition)

Titel: Mittelstadtrauschen: Roman (German Edition)
Autoren: Margarita Kinstner
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Ranken, hellrot schwappt die Flüssigkeit gegen den Glasrand.
    »Weißt du, so was wie mit deiner Mutter erlebt man nur einmal. Da kann eine Helga einfach nicht mithalten.«
    Marie will nicht über die Mutter reden. Nicht über die Mutter und nicht über des Vaters Liebe, die niemand auslöschen kann, weder der Tod noch eine Helga. Sie sieht in die Ecke, wo der Gummibaum der Großmutter steht und seine verstaubten Blätter ins Dunkel reckt. Als würde er nach ihr greifen, ihr zuflüstern: Hol mich hier raus.
    »Du bleibst doch über Nacht, oder?«, fragt der Vater. Seine Stimme ist leise, sein Blick klebt am Weinglas.
    Also erzählt Marie von der Schule, in der sie arbeitet, vom Seminar, das sie in der ersten Ferienwoche besucht, und vom Seminarleiter, der sich nicht vorbereitet und nur planlos vor sich hin geredet hat. Der Vater hört stumm zu, mehr als ein »Mhm« kommt ihm nicht über die Lippen. Als Marie nichts mehr einfällt, das sie ihm noch erzählen könnte, geht er ins Bad. Marie hört das Wasser rauschen, dann Zahnputzgeräusche und hochgehusteten Schleim, der ins Becken geworfen wird. Der Vater kommt im Schlafanzug wieder heraus, wünscht ihr eine gute Nacht und geht in das kleine Zimmer, in dem Marie in den Ferien immer geschlafen hat, aber das ist lange her, damals war sie noch ein Kind.
    Marie spült die Weingläser ab. Raucht noch eine Zigarette und geht dann ins ehemalige Großmutterschlafzimmer. Dort öffnet sie das Fenster und sieht auf den leeren Büroparkplatz hinunter. Plötzlich muss sie an die Spinnenfrau denken, von der sie als Kind so oft geträumt hat.
Komm doch, komm, wenn du dich traust!
, lockte sie mit ihren langen Fingernägeln, nahm Marie bei der Hand, und dann flogen sie vom Wiener Kinderzimmer bis zur Großmutter nach Graz, wo sie die Schlafzimmertür mit ihren langen dünnen Fingern öffnete. Die Großmutter sah von ihrem Bett auf und lächelte Marie entgegen. »Jetzt bist du endlich wieder da«, streckte sie ihre Hand nach ihr aus, doch als Marie zu ihr hinübergehen wollte, war der Weg mit Spinnennetzen verhangen.
    Als sie von ihrem eigenen Schreien aufwachte, stand der Vater jedes Mal mit geröteten Augen und hilflosem Blick in der Tür.
    Draußen werfen Männer ihr dumpfes Lachen gegen Häuserwände und fangen es wieder auf. Marie schließt das Fenster und kramt nach dem Handy. Sie hat noch immer keine Antwort von Jakob. Jetzt fragt sie sich, ob er vielleicht böse auf sie ist, weil sie ihm so knapp vor ihrem Treffen die SMS mit der Absage geschickt hat. Er hat ihr sein Labor zeigen wollen, den Tunnel unter der Donau, in dem die Lichtteilchen in den langen Glasfaserkabeln entlangschießen. Bestimmt glaubt er, dass ich mich nicht für seine Arbeit interessiere, denkt sie.

4  »Joe ist tot«, sagt Marie am nächsten Morgen. Sie sitzen beim Frühstück, Marie hat Semmeln und Marmelade besorgt.
    »Joe?«, fragt der Vater. »Welcher Joe denn?«
    »Na, Joe, du weißt schon«, sagt Marie und muss daran denken, dass er jetzt in irgendeinem Kühlraum liegt. »Ich hab dir doch von Joe erzählt, ich war mit ihm zusammen!«
    »Joe. Kann mich nicht erinnern«, sagt der Vater.
    Marie greift nach der Zigarettenpackung. Das ist so typisch für ihn, denkt sie. Joe interessiert ihn genauso wenig, wie ich ihn interessiere.
    Ganz anders die
Kronen Zeitung
. Die interessiert sich nämlich durchaus für Joe. Noch mehr interessiert sie sich jedoch für Joes Mutter. Riesengroß prangt das Bild der trauernden Mama auf der Doppelseite, dabei hat sie sich die letzten Jahre kein bisschen um ihren Sohn gekümmert. Soll er doch schau’n, wo er bleibt, hat sie sich gedacht, man kann doch nicht ewig für sein Kind sorgen. Aber das sagt sie dem Reporter von der
Krone
nicht. Stattdessen weint sie sich die Augen aus den Höhlen. »Mein armes Kind«, schluchzt sie immer wieder und rubbelt mit dem Taschentuch in den Augenecken, sodass sie noch roter, noch authentischer nach trauernder Mutter aussehen.
    Marianne Schreyvogl wippt mit den braunen Dauerwellen, und der Fotograf knipst eifrig. Schon hat er die Überschrift im Kopf, singt ein Lied in seinen Ohren:
Junge, komm bald wieder, bald wieder nach Haus
. Mariannes Junge wird nie wieder nach Hause kommen. Der kleine Johannes, der sich von allen Joe nennen ließ, ist in den Donaukanal gefallen, und keiner hat ihm geholfen.
    Die
Kronen Zeitung
ist die meistverkaufte Tageszeitung Österreichs, deswegen liegt sie auch auf dem Schoß der alten Hedi Brunner.
    »Da
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