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Mittelstadtrauschen: Roman (German Edition)

Mittelstadtrauschen: Roman (German Edition)

Titel: Mittelstadtrauschen: Roman (German Edition)
Autoren: Margarita Kinstner
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den bunten Märchenfiguren. Danach auf den Schlossberg hinauf, zum Uhrturm,
Griaß di Gott, mei liabes Graz
, die Treppen wieder hinunter. Manchmal auch mit der Zahnradbahn hinauf und die Treppen hinunter oder die Treppen hinauf und mit der Zahnradbahn hinunter. Immer Schlossberg, immer Begrüßungslied, immer Grottenbahn. Danach acht Wochen lang Eggenberger Bad, Spaziergänge im Stadtpark und Puddingkochen.
    Am Ende der Ferien packte die Großmutter lange, in zwei Hälften geteilte Steirersemmeln, die sie mit Dachsteiner Wurst und Essiggurken belegte, in Maries Rucksack, dazu füllte sie Himbeersaft in eine ausgewaschene Maresi-Flasche. Am Bahnhof kauften sie bunte Heftchen mit Sprechblasen,
Micky Maus, Donald Duck, Tick, Trick und Track
. Der Geschmack der Semmeln und die bunten Hefte zögerten den Abschied ein wenig hinaus, deswegen hob Marie die Hälfte der Jause und der Geschichten bis zum nächsten Tag auf, da schmeckte die Wurst dann schon ranzig und der Himbeersaft wie der Kakao, den die Volksschullehrerin immer auf die Heizung stellte.
    Marie nimmt den Daumennagel aus dem Mund. Die Nagelhaut ist rot und hängt in Fetzen. Sie sieht auf die Uhr. In dreißig Minuten ist sie in Graz.
    Warum ist der Vater wieder dorthin gezogen? Ausgerechnet Graz hat er sich ausgesucht, und dann auch noch die Wohnung der Großmutter. Das letzte Fleckchen Geborgenheit, achtundvierzig Quadratmeter Heimat. Eine Küche, in der einmal Pudding gekocht worden ist, ein Bett, in dem es nach Weichspüler gerochen hat, und ein Klo, in dem über der Schüssel immer ein zarter Rosenduft geschwebt ist. Wie hat es die Großmutter bloß geschafft, diesen Duft ins Klo zu bringen, und warum schafft sie, Marie, es nie?
    Jetzt riecht es in der Großmutterwohnung nicht mehr nach Usambaraveilchen und Rosenseife, jetzt riecht es nach Aschenbecher und Steirer Schlosskäse und nach dem Fußschweiß des Vaters.
    Vielleicht hätte Marie die Wohnung damals doch nehmen sollen.
    »Magst nicht hier einziehen?«, hat die Großmutter gefragt, als sie nur noch flüstern konnte, Falten um den Mund und rotgeäderte Augen. Aber ohne Arbeit, wie hätte Marie das finanzieren sollen? In Graz bekommt man so schwer einen Lehrerposten. Alle kommen sie nach Wien, so wie ihre Cousine, die extra von Thal nach Wien gezogen ist, weil sie keine Stelle bekommen hat, nicht in Thal und nicht in Graz, und jetzt arbeitet sie als Begleitlehrerin an einer Ottakringer Schule, darf sich um die schwierigen Fälle kümmern, die keiner haben will, und den Kindern Deutsch beibringen.
    Marie sieht aus dem Fenster. Erkennt die Kartonfabrik. In zwanzig Minuten wird sie am Hauptbahnhof sein, bis dahin muss sie ihr Lächeln wiedergefunden haben. Wo versteckt es sich? Hinter dem Sitz ist es nicht, auch nicht oben auf der Gepäckablage. Marie sieht die Großmutter vor sich, wie sie den Mund aufreißt und das Zwerchfell zum Zucken bringt. Das war ihr Lieblingsspiel. Die Großmutter tat, als hätte sie das Lachen verloren, und dann begaben sie sich auf die Suche, sahen überall nach, im Spülkasten, unter dem Teppich, im Alibert und hinter dem Duschvorhang. Einmal fand Marie das Lachen in einer der Mülltonnen im Innenhof. »Schau, da ist es!«, rief sie und rannte zur Großmutter, um es ihr in den Mund zu stecken, worauf die Großmutter laut lachte und das Echo an den Treppenhauswänden abprallte und über die Stiegen purzelte.
    Marie schultert die Sporttasche. Die Großmutter steht nicht am Bahnsteig, wird nie wieder hier stehen. Marie fährt mit der Rolltreppe hinunter, geht an den Imbissständen vorbei, bekommt den Geruch von Kebab und Ammoniak in die Nase und fährt auf der anderen Seite wieder hoch. Die Straßenbahn steht schon in der Station. Marie legt dem Fahrer ein Zwei-Euro-Stück in die Hand, nimmt Fahrschein und Wechselgeld entgegen, stellt die Tasche ab und lässt sich auf den Sitz fallen.
    Der Vater isst gerne Steirer Schlosskäse, ein Relikt aus seiner Jugend. Sonst ist von seiner Jugend nichts mehr übrig, alles riecht nach Verwesung. Marie öffnet das Fenster, lehnt den Oberkörper nach draußen und atmet das Vogelgezwitscher ein.
    »Mach das Fenster zu, du weißt doch, dass mich diese Pollen umbringen«, sagt der Vater. Auf seinem linken Auge klebt ein Wattebausch. Als er mit dem Messer ein Stück vom Brot herunterschneidet, fallen Krümel auf seine Knie.
    »Du sollst doch nicht so viel rauchen«, sagt Marie, die am Fenster hängt und mit den Zehen eine leere Zigarettenschachtel
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