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Mittelstadtrauschen: Roman (German Edition)

Mittelstadtrauschen: Roman (German Edition)

Titel: Mittelstadtrauschen: Roman (German Edition)
Autoren: Margarita Kinstner
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Flaschen Mineralwasser und einem Traum vom Urenkel.
    Beschwingt läuft er die Treppen hinunter.
    Doch dann macht ihm das Schicksal einen Strich durch die Rechnung. Mit rotem Filzstift kritzelt es in seinen Glücksgefühlen, sodass er am Ende aussieht wie ein Schularbeitsheft. Oberleitungsschaden, heißt es in der Durchsage, und noch denkt sich Jakob nichts dabei. Gemütlich lehnt er sich zurück, jetzt ist wenigstens Platz in der Straßenbahn, jetzt kann er ungestört lesen. Oberleitungsschaden, wie lange wird das schon dauern, zehn Minuten vielleicht. Er sieht auf die Uhr. Er ist früh dran, einen Polster von fünfzehn Minuten hat er locker, also kramt er nach dem Penguin-Classic-Taschenbuch. Wenn Jakob Literatur liest, dann immer alt und englisch. Nach sieben Seiten von Wells’
Time Machine
wird er dann aber doch nervös. Noch immer steht der Fahrer am Gehsteig, zwischen den Lippen eine Zigarette, um ihn herum eine Traube gereizter Fahrgäste, und zuckt mit den Schultern. Da geht so schnell nichts weiter. Besorgt sieht Jakob auf die Uhr. Klappt das Buch zu und greift in die Hosentasche. Wo hat er bloß sein Handy? In der linken Gesäßtasche ist es nicht, in der rechten auch nicht, also den Rucksack aufschnüren, alles von unten nach oben wühlen, doch vergeblich, das Handy ist weg. Scheiß Taschendiebe, Dreckspack, elendiges, jetzt haben sie ihm auch noch das Handy geklaut und mit ihm Maries Nummer! Fluchend springt er auf und läuft die Alser Straße hinunter. Warum ist er auch so lange sitzen geblieben, wieso ist er nicht mit den anderen ausgestiegen, sieben Minuten nur mehr, das schafft er nie! Jetzt bekommt er auch noch Seitenstechen. Vielleicht hätte er mit Sonja joggen gehen sollen, so wie sie es sich immer gewünscht hat, dann wäre er jetzt nicht so außer Atem, dann wäre er fit und würde wie eine Gazelle die Alser Straße hinuntersprinten, in fünf Minuten vom Währinger Gürtel zum Stephansplatz. So aber benötigt er ganze dreiundzwanzig Minuten, und als er endlich ankommt, sieht er nur eine Menge Touristen und ein Häufchen Hundescheiße. Also läuft er weiter, die Straße hinunter, über die Brücke zum Augarten, um den Augarten herum, in die Castellezgasse hinein. Läutet, wartet, läutet. Doch Marie ist nicht zu Hause.

3  »Der Vater hat sich mit der Yuccapalme ins Aug gestochen, jetzt wäre es Zeit, dass du endlich wieder einmal kommst!«, hat die Tante befohlen, also ist Marie mit dem D-Wagen zum Südbahnhof gefahren. Jetzt sitzt sie im Intercity 365 mit dem Namen
Erzherzog Johann
und zuckelt über den Semmering. Der Großraumwagen ist neu, nur das Rattern des Zuges erinnert noch an früher, als der Vater sie zu alten Frauen ins Abteil gesetzt und gebeten hat, man möge doch ein Auge auf das Kind werfen. Wie alt war sie damals? Zehn? Elf? Die Frauen gingen ihr auf den Nerv, ständig hatten sie den Mund offen und verströmten ihren Altweibermundgeruch, zeigten dabei belegte Zungen und falsche Zähne, redeten auf sie ein und glaubten auch noch, sie würde sich für ihre Geschichten interessieren. Bei der Ankunft stand dann die Großmutter am Bahnhof und fragte, warum Hugo nicht mitgekommen sei, eine Frage, die ihr die kleine Laetitia Maria nicht beantworten konnte. Bis zu ihrem Tod wartete die Großmutter darauf, dass ihr Hugo kommen würde, doch Hugo kam nicht. Marie fuhr allein nach Graz, Christtag hin, Dreikönigstag zurück, Palmsamstag hin, Ostermontag zurück, nur in den Sommerferien durfte sie länger bleiben. Der Vater blieb in Wien und musste keine Rücksicht nehmen. Die Frauen, mit denen er sich während Maries Abwesenheit traf, wussten nichts von seiner Tochter, und noch weniger wussten sie von seiner toten Frau. Sie waren da, um den Druck in seiner Brust ein wenig zu erleichtern, ihre Namen spielten dabei keine Rolle.
    Marie kaut an den Fingernägeln und sieht aus dem Fenster. Erinnert sich an die Heumanderl, die hier früher auf den Feldern gestanden sind, und an die Vorfreude, die mit jedem von ihnen gestiegen ist. Die Heumanderl hat es nur im Sommer gegeben, knapp nach Schulschluss, wenn die großen Ferien wie eine saftige grüne Spielwiese vor ihr lagen und Wien mit jeder Station weiter wegrückte – Wiener Neustadt, Mürzzuschlag, Bruck an der Mur. Bei der Großmutter in Graz gab es frisch gekochtes Essen und Vanillepudding und die Grottenbahn, mit der sie jedes Mal fuhren, eine Decke über den Schultern, eine zweite über den Knien, vorbei an den Igelfamilien aus Wachs und
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