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Mittelreich

Mittelreich

Titel: Mittelreich
Autoren: Josef Bierbichler , MITTELREICH
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Unerfahren, wie sie in solchen Dingen waren, erkannten die älteren Schwestern trotzdem diesen bedrohlichen Umstand im Verhalten ihres Vaters und taten instinktiv das Nützliche: Sie ersetzten auf geschickte Art die tote Mutter, indem sie ohne Anweisung die gesamte anfallende Arbeit erledigten und gleichzeitig wie selbstverständlich die Versorgung der vier jüngeren Geschwister übernahmen. Und immer wieder, aber nie zu oft, fragten sie den Vater um Rat. So erinnerten sie ihn unauffällig an seine Unabkömmlichkeit und weckten in ihm gleichzeitig wieder die Instinkte für sein Verantwortungsgefühl gegenüber den Kindern und dem Leben schlechthin. Das Einzige, was wie eine unübersehbare Narbe überblieb, war eine deutlich gesteigerte Frömmigkeit beim Alten.
    Ein Jahr nach dem Tod der Mutter hatten die kleineren Kinder sie schon beinahe vergessen. Die älteren Schwestern waren unter dem aufgezwungenen Verantwortungsgefühl früh zu jungen Frauen gereift, und der Lot behandelte sie dementsprechend: Er sprach zu ihnen wie zu Partnerinnen, nicht wie ein Patriarch zu seinen Kindern. Das hatten die Kleinen mitbekommen und lebten in der um die Mutter reduzierten Familie mit ihren älteren Schwestern zusammen wie mit mehreren Müttern. Eine beinah matriarchalische Struktur hatte sich aus dem Unglück herausgebildet und prägte nun auch den Vater und den einzigen Sohn unter den Kindern.
     
    Im Haus des Schwarz, das der Seewirt schon im Jahr 1911 gekauft hatte, um noch mehr Platz für die immer zahlreicher aus der Stadt herausdrängenden Sommerfrischler zu schaffen und auch, weil es billig hergegangen war, hatte sich nach dem Ersten Weltkrieg die ehemalige Kammersängerin Krauss einquartiert. Sie zehrte von einer ansehnlichen Pension und gab zusätzlich noch monatlich vier- bis fünfmal Gesangsunterricht für Studenten des hauptstädtischen Konservatoriums. Die fuhren mit dem Zug bis Seestadt und dann weiter mit dem Dampfschiff nach Seedorf. Dort landeten sie nahezu direkt vor dem Haus der Kammersängerin, denn der Anlegesteg vor dem Seewirtshaus war keine hundert Meter vom Schwarzenhaus entfernt.
    So einen Ausflug nahmen mancher Student und manche Studentin wegen der schönen Landschaft, durch die ihre Reise sie führte, gerne in Kauf, selbst wenn an ihrem Ziel ganz seltsam gesungen werden musste. Wer da auf der Uferstraße spazieren ging, konnte das Mimimimi und das Nononono hören, wechselnd mit einem Lalalala, alles immer wieder von vorne und die Tonleiter hinauf und danach wieder hinunter, oder das Operta operta operta, dem ein mümele memele momele mumele folgte, um dann in die Zwielaute maimele moimele maumele hineinzutaumelen. Mh. Manch einer blieb stehen und hörte mit offenem Mund zu. Und dafür zahlen die der alten Kraxen auch noch ein Geld, sagte der Eierwastlbauer von Kirchgrub, der einmal Zeuge einer Unterrichtsstunde geworden war, als er seinen schlachtreifen Stier nach Seedorf hinunterführte, um ihn dem Dinewitzer zu übergeben, dass der ihn mit seinem Kahn nach Klosterried hinüberrudere, zur Bahnstation – dafür schmeißen die ihr Geld hinaus!? Er war fassungslos, denn er hatte gehört, dass die Stunde bei der Kammersängerin acht Reichsmark kostete. Dafür musste er zwei Wochen lang seine Kühe melken.
    Beim Seewirt, wie in Seedorf allgemein, wo wegen der gebildeten Gäste schon so eine Art Kultur ins Dorf und in die Häuser eingezogen war (wovon in der nur zwei Kilometer entfernten, aber gut versteckten und windgeschützten Senkgrube Kirchgrub noch nicht mal im Entferntesten die Rede sein konnte), hörte man das gestopselte Singen in der Wohnung der Kammersängerin mit ganz anderen Ohren: mit einer stummen Andacht. Die Kraus hatte den jungen Seewirt ein paar Mal im Kirchenchor singen hören und ihm angeboten, seine Stimme auf eine mögliche Begabung hin testen zu wollen, wenn er das wünsche. Noch sind Sie ein Batzist, hatte sie ihm nach einem österlichen Hochamt zugeraunt, aber vielleicht kann man ja einen Bassisten aus Ihnen machen. Kommen Sie doch mal vorbei. Sie haben’s ja nicht weit.
    Der Sohn des Seewirts war ein unbefangener junger Mann und im Umgang mit den Städtern, die jeden Sommer das Haus bis unters Dach hinauf füllten, schon ziemlich geübt. Die Anwesenheit dieser Leute, die ein ganz anderes Lebensgefühl mitbrachten und verbreiteten als jenes, das im hiesigen dörflichen enthalten war, wenn sie für drei oder vier Monate auftauchten, einen ungeheuren Wind machten, ein Tempo und
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