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Mitte der Welt

Mitte der Welt

Titel: Mitte der Welt
Autoren: Ursula Priess
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Zuschauerin – und sehe die Frauen nun anders; und dass die Augen einiger feucht sind. Ja, Migrantinnen, auch sie!
    Als das Singen endlich doch ein Ende hat, sagt eine der Frauen: Ach, wär ich doch bloß dort geblieben!
    Wo?
    In Düsseldorf.
    Sind Sie nicht gerne in Istanbul?
    Man gewöhnt sich dran, sagt sie und seufzt. Woran sie sich gewöhnt hat, sagt sie nicht. Aber ich sehe, ringsum wird genickt.
    Ich kenne Düsseldorf nicht, frage, ob es schöner sei als Istanbul.
    Das wissende Lächeln der Frauen um mich herum und das Seufzen einiger: Ach wissen Sie –
    Ich liebe es, in Istanbul zu sein, sehr sogar, sage ich, entschlossen, mir meine Liebe nicht nehmen zu lassen.
    Ach, wenn Sie erst einmal dreißig Jahre hier sind, sagt die aus Düsseldorf und seufzt wieder, und führt ihren Satz wieder nicht zu Ende.
    Ich aber, zum Glück, bin nicht mehr gebunden; und also frei für Istanbul!

AUF DEN STRASSEN DIE MENSCHEN MIT IHREN GESICHTERN
    Die Gesichter der Menschen auf den Straßen, die schönen, die hässlichen, die jungen, die alten, die städtischen, die ländlichen –
    Nein, darum geht es nicht. Es geht nicht um hässlich oder schön oder brutal oder müde oder trüb oder bleich oder finster oder heiter oder zierlich oder grob.
    Auf meinen Gängen durch die Stadt schaue ich sie mir an, Tag für Tag, wie sie gehen und wie sie stehen, wie sie reden und lachen oder rufen und, selten, auch schreien; ihre Mimik, ihre Gestik, ihr Tonfall –
    Die Menschen mit ihren Gesichtern – ich schaue sie in mich hinein, ich weide sie ab, ich verschlinge sie.
    Fress ich ihnen die Seele aus dem Leib?
    Ach nein! Ganz im Gegenteil!
    Und wenn du keine Füße mehr zum Gehen hättest und keine Augen zum Schauen in dieser Stadt?
    Noch kann ich gehen, wohin ich will in dieser Stadt mit ihren Menschen mit ihren Gesichtern, und noch gehe ich weiter und immer weiter durch sie hindurch.
    Heute werde ich nach Kasımpaşa hinabgehen.

WASSER FÜR ISTANBUL
    Ob mir Istanbul gefallen habe, fragt der Taxifahrer in radebrechendem Englisch, und, mit Blick durch den Rückspiegel, ob mein Urlaub gut gewesen sei.
    Istanbul ist schön, versuche ich es auf Türkisch, und ich liebe Istanbul so sehr, dass ich hier sogar lebe; nur manchmal, wie zum Beispiel jetzt, muss ich nach Deutschland.
    Sein Blick in den Rückspiegel, mich erneut taxierend – er fragt nicht, was sie sonst immer fragen, ob ich mit einem Türken verheiratet, auch nicht, ob ich Lehrerin sei.
    Ich frage: Sind Sie Istanbuler?
    Ja, geboren und aufgewachsen sei er in Kars, aber seit zwanzig Jahren lebe er hier.
    So lange schon!, sage ich, Blickkontakt durch den Rückspiegel vermeidend. Und immer sind Sie also Taxi gefahren?
    Ja, immer, die Stadt kenne ich inzwischen wie die Innenfläche meiner Hand.
    Ach, so sagen Sie das im Türkischen!
    Sein verwunderter Blick – er versteht nicht, wie ich es meine; also frage ich, wie sich die Stadt verändert habe in den zwanzig Jahren, seiner Meinung nach.
    Jetzt endlich – der Taxifahrer dreht sich kurz zu mir um, in seinem Blick ist freudiger Stolz –, seit wir den neuen Oberbürgermeister haben, gibt es immer und überall in Istanbul Wasser! Er ist ein guter Mann, er hält, was er verspricht.
    Ich zögere – was sollte ich darauf sagen.
    Sie als Neu-Istanbulerin haben doch bestimmt gehört von seinem Wahlerfolg?
    Ja, als Neu-Istanbulerin, sage ich – der Titel gefällt mir, wenn auch verliehen von einem, dessen Partei mir suspekt ist, weil sie, soweit ich weiß, das Paradies auf Erden verspricht –, ich habe natürlich gehört, dass er an die Macht gekommen ist, aber das mit dem Wasser wusste ich nicht. Wie schön, dass er geschafft hat, was keiner vorher schaffte: Wasser für Istanbul, immerzu und überall.
    Worauf der Taxifahrer sagt, wieder mit Blick durch den Rückspiegel, nun voller triumphierendem Glück: Endlich ist einer an der Macht, der fürs Volk etwas tut, nicht nur in die eigene Tasche schafft.
    Ich erzähle von Freunden, in deren Stadtviertel im vergangenen Sommer oft tagelang kein Tropfen Wasser aus dem Hahn floss; und dass mich für sie freue, wenn das Wasserwunder wahr würde. Aber, denke ich, noch ist nicht Sommer!
    Der erwartungsvolle Blick des Taxifahrers durch den Rückspiegel – nein, weiter will ich nichts sagen. Ein Taxifahrer ist ein Taxifahrer, und ich, Gast in seinem Auto, bin abhängig von ihm. Stattdessen frage ich, welche Straße zum Flughafen er fahren werde.
    Welche Strecke wünschen Sie?
    Ich appelliere an
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