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Mit der Linie 4 um die Welt

Mit der Linie 4 um die Welt

Titel: Mit der Linie 4 um die Welt
Autoren: Annett Groeschner
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St.-Katharinen-Platz, zu dem ich schließlich doch nur mit einem Taxi gelange, verbirgt seine alte Pracht nur schlecht. Es muss einmal einer der schönsten Plätze der Stadt gewesen sein, wie man in der Ausstellung historischer Alexandria-Abbildungen in der berühmten Bibliothek der Stadt sehen kann. In der ersten Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts war Alexandria ein blühendes Gemeinwesen mit Einwohnern unterschiedlichster Nationalitäten, neben den Ägyptern Italiener, Griechen, Franzosen, Armenier und Engländer. Hunderttausend Alexandriner nicht-ägyptischer Nationalität wurden nach der Revolution 1952 aus dem Land vertrieben. Damals, in den zehner und zwanziger Jahren, bauten die bekanntesten Architekten Europas hier Häuser, die den Jugendstilgebäuden von Budapest, Riga, Paris oder Berlin in nichts nachstanden; sie waren oft sogar noch prächtiger, weil sie Orient und Okzident miteinander verbanden. Noch heute kann man die fast unversehrten orientalischen Stuckfassaden bewundern, auch wenn sie von den Abgasen der vergangenen hundert Jahre sehr schmutzig geworden sind. Das Rondell an der Wendeschleife der 4 hat ebenfalls schon bessere Zeiten gesehen.
    So wie das von jüdischen Kaufleuten gegründete und heute staatliche Jugendstilkaufhaus, dessen Haupteingang in einer Nebenstraße um die Ecke liegt. Mit seinen frei stehenden Fahrstühlen, in denen man auf Sofas Platz nehmen kann, und den Treppenhäusern mit den geschwungenen Geländern strahlt es eine große, aber altmodische Würde aus. Es scheint, als würde man mit dem Schritt über die Schwelle mindestens fünfzig Jahre zurückversetzt. Es gibt mehr Verkäufer als Kunden; auch die Waren sehen aus, als staubten sie schon Jahrzehnte vor sich hin. Niemand wird diese Anzüge in der zweiten Etage je kaufen, die dem Schnitt nach aus den fünfziger Jahren zu stammen scheinen. Die Verkäufer stehen traurig auf dem Fußboden aus Marmor und Glas herum. Es riecht nach Bohnerwachs. In die Glastüren ist das Emblem des Kaufhauses golden eingelassen. Dahin, dahin.
    In der Kirche der heiligen Katharina nebenan verrotten die Gebeine des letzten Königs von Italien, Victor Emanuel III. , der 1947 hier in seinem Exil im Alter von achtundsiebzig Jahren gestorben ist. Die Kränze an seinem Grab sind verdorrt.
    Die Bahn der Linie 4, die ich besteige, besteht aus nur einem Ziehharmonikawagen, sodass es keinen Wagen nur für Frauen gibt. Da er sehr voll ist, stehen Männer, Frauen und Kinder bunt durcheinander. Dieser Duewag-Wagen ist vor einem halben Jahrhundert in Kopenhagen gefahren. Als die Hauptstadt Dänemarks 1972 ihre Straßenbahn abschaffte, wurden neunundneunzig Wagen nach Alexandria verkauft, wo sie heute noch fahren. Im Laufe der Zeit musste immer wieder improvisiert werden: In dem Wagen, in dem ich sitze, fehlt die Wand zwischen Fahrer und Fahrgästen. Der Fahrer hat sich mit einem auseinandergefalteten Pappkarton beholfen, der, an Boden und Decke mit Bindfaden befestigt, eine improvisierte Sichtblende bildet, die sich jederzeit erneuern lässt.
    Ägypten gilt als eine der ersten Hochkulturen, die das Rad einsetzte, auch wenn es dort nicht erfunden, sondern nur von den Sumerern übernommen wurde. Aber das wichtigste Accessoire in allen Fahrzeugen, die sich durch Alexandria bewegen, ist nicht das Rad, sondern die Hupe. In meiner Straßenbahn erklingt eine heisere Glocke, auf die sich der Fahrer mit dem ganzen Gewicht seines Körpers legt, denn Hupen muss er eigentlich immer. Es ist müßig zu sagen, dass die Straßenbahn kein eigenes Gleisbett hat, sondern immer irgendein Auto, meistens uralte Shigulis und Ladas aus den Zeiten, als die Sowjetunion der beste Freund der damaligen Vereinigten Arabischen Republik war, auf den Schienen steht. Und nicht selten bleiben sie da auch liegen. Jeder betätigt sich dann als Bastler. Stoßstangen haben hier noch ihre ursprüngliche Funktion, und Blech ist nur ein Kokon, der auch verbeult sein kann. Die Straßenbahnen der 4, die die ältesten Fahrzeuge auf der Straße sind, haben die wenigsten Dellen.
    Bei der Fahrt mit der 4 zeigt sich, dass Fahrpläne sinnlos sind. Die Bahn kommt, wenn sie kommt, und man kann sicher sein, dass sie das tut, wenn die Schienen frei sind. Und wenn sie fährt, kann man auch neben ihr herlaufen oder mit ihr gemeinsam warten. Mehr als zwölf Haltestellen hat die 4 nicht.
    Ein Fahrschein kostet 25 Piaster. Das sind, in Euro umgerechnet, 3 Cent. Die Fahrscheine werden von einem Schaffner verkauft, der
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