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Mit der Linie 4 um die Welt

Mit der Linie 4 um die Welt

Titel: Mit der Linie 4 um die Welt
Autoren: Annett Groeschner
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durch den Wagen geht, wenn er sich durch die Menschenmenge drängen kann. Wenn nicht, wird das Geld zu ihm durchgegeben, und Wechselgeld und Ticket nehmen anschließend den Weg zurück zum Fahrgast.
    Wir fahren durch das älteste Viertel Alexandrias mit Häusern, die einst von Italienern erbaut wurden. Dort gibt es die Armaturenstraße, die Gummistraße, die Schuhstraße. In jeder Straße sind die Geschäfte spezialisiert, und man weiß sofort, wo man hingehen muss, wenn man eine Gummilippendichtung braucht oder ein Ersatzrad für den Shiguli. In der Reifenstraße verkauft ein alter Mann Batterien. Auch Autowerkstätten sind hier reichlich vertreten. In der Möbelstraße stehen Schlafzimmerspiegel und Sessel im Louis-quinze-Stil auf der Straße. Europäisches Rokoko ist vor allem in den Salons der Wohnungen verbreitet, wo Fremde empfangen werden, während die Wohnzimmer, die der Familie vorbehalten sind, modern ausgestattet sind.
    In der Ferne ruft ein Muezzin zum Abendgebet. Die Bahn nähert sich langsam der Endhaltestelle. Die Dämmerung setzt ein, die Signalleuchten der Straßenbahn funktionieren nicht, genauso wenig wie der vordere Scheinwerfer. Hier wird auf Verschleiß gefahren. Für Mitteleuropäer wirken die Bahnen ineffektiv, veraltet und schmutzig, aber wenn man es nicht eilig hat, ist es lustig, bunt und laut. Ab und an steckt sich einer eine Zigarette an, direkt unter dem Rauchen-verboten-Schild. Auch der Fahrer raucht und macht sich einen Tee während der Fahrt. Der Zucker steht auf dem Armaturenbrett.
    Das, was hier auf dem dem Kapitel vorgestellten Foto wie ein Straßenbahnunfall aussieht, ist das normale Fahrgeschehen einer Straßenbahn, die auf dem Platz vor dem Bahnhof um die Kurve will. Zwischen den Gleisen liegt entsetzlich viel Müll. Zwar hat einer der größten Mischkonzerne Europas, Veolia, der in Deutschland einige Eisenbahnstrecken betreibt, die Schienenreinigung und Müllabfuhr übernommen, aber es scheint, als ginge es mehr um Rendite als um Ordnung.
    Am Bahnhof jedenfalls gerät die Bahn mitten hinein in einen Basar. Wenn zwei Bahnen sich entgegenkommen, bleibt rechts und links nur eine Handbreit zu den Waren, die bis in vier Meter Höhe im Meerwind flattern und die Straßenbahnwagen streifen. Wenn eine Schaufensterpuppe umfällt, wird sie augenblicklich von der Straßenbahn zermalmt. Und trotzdem wechseln die Menschen lustig die Gleise eine Zehntelsekunde, bevor die Bahn sie erfassen kann. Erstaunlicherweise passiert selten etwas. Ich steige aus, die Bahn verschwindet auf Nimmerwiedersehen, und ich verlaufe mich sofort in den Massen von Tüchern, Kleidern und Shisas, immer begleitet vom heiseren Gebrüll der Händler, die mir das Blaue vom Himmel versprechen, während sie ganz indiskret die Hand aufhalten. Die Linie 4 jedenfalls kehrte nicht zurück.

Abweichende
Linienführung
    Amsterdam, Niederlande
    W ir stehen auf dem Dach des alten Grand Hotels Amrâth und schauen auf das Treiben auf dem Vorplatz von Amsterdam Centraal. Meine Begleiterin Karin Reitzig hat mich mit der Bemerkung hier hochgelockt, ohne dieses Prachtstück im Stil der Amsterdamer Schule von innen gesehen zu haben, wäre eine Fahrt mit der Linie 4 unvollständig. Und so haben wir den kirchenartigen Raum mit Bleiglasfenstern in der Belle Etage, die Türstürze mit den Art-déco-Schnitzereien, den alten Paternoster und die Marmorfußböden bewundert und einen Blick in eines der Hotelzimmer geworfen. Niemand hat uns aufgehalten, als wir die Tür zum Dach öffneten. Die Straßenbahnlinie 4 fährt nur durch einen schmalen Kanal von uns getrennt am Hotel vorbei, eine blau-weiße Schlange, die vom Bahnhof eine leichte Kurve nehmen muss, die Sankt Nikolauskirche links liegen lässt und zwischen den Häusern des Damrak-Boulevards verschwindet. Die U-Bahnbaustelle sieht von oben aus, als hätte sie sich in ihrem Provisorium auf ewig eingerichtet. Ihretwegen fährt die 4 in der Innenstadt seit Monaten eine andere Strecke als gewöhnlich. Es ist der 1. Dezember und schon etwas frisch, wir entscheiden uns, unser Sightseeing aus der Vogelperspektive abzubrechen, wollen die Treppe wieder runter, als wir merken, dass die Tür zum Treppenhaus zugefallen ist. Sie hat nur einen Knauf. Einen Moment lang fürchten wir, ausgeschlossen worden zu sein, aber dann stellt sich nach einigem hektischen Rütteln an der Tür heraus, dass sie einen Drehgriff hat. Der Empfangschef deutet eine leichte Verbeugung an, als wir das Gebäude verlassen.

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