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Mit Blick aufs Meer - Mit Blick aufs Meer - Olive Kitteridge

Titel: Mit Blick aufs Meer - Mit Blick aufs Meer - Olive Kitteridge
Autoren: Elizabeth Strout
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schlau wirst, hatte Jace ihr einmal gesagt, dann schau nicht drauf, was du denkst, sondern auf das, was du tust.
    Also schaute Rebecca zu, wie sie den Grillanzünder unter der Spüle hervorholte und in ihren Rucksack packte. Sie schaute zu, wie sie aus ihrer Wäscheschublade ganz leise die alten Postkarten von ihrer Mutter zog. In der Küche riss sie sie mittendurch - und hörte dabei einen winzigen Laut aus ihrer Kehle kommen. Sie packte sie in den Rucksack. Dann
packte sie das Hemd dazu, das sie David gekauft hatte, und den Rest der Zeitschrift mit der Werbung darin. In die Jackentasche steckte sie zwei Feuerzeuge.
    Während sie vorsichtig die Treppen hinunterstieg, erklangen die Worte in ihrem Kopf immer wieder: Sie haben das Recht zu schweigen. Sie haben das Recht - Sie haben das Recht - Sie haben das Recht.
    Wenn sie es so sagten, war das allein schon die Verhaftung wert.

Fluss

    Einen Tag vorher hätte sie ihn fast überfahren, beim Zurücksetzen auf dem Parkplatz der Bücherei, und obwohl er nicht aufschrie, riss er doch den Arm hoch, wie zur Abwehr oder nur vor Überraschung. Jedenfalls konnte Olive gerade noch bremsen, und Jack Kennison sah sie nicht einmal an, sondern ging weiter zu seinem eigenen Auto - einem blitzenden roten Kleinwagen, der ein paar Meter weiter stand.
    Altes Ekel, dachte Olive. Er war ein großer Mann mit Bauch, Hängeschultern und (fand zumindest Olive) einer arroganten, hinterhältigen Art, so wie er den Kopf vorreckte und die Leute nicht ansah. Er hatte in Harvard studiert und in New Jersey gelebt - ob als Dozent in Princeton oder anderswo, wusste Olive nicht -, aber seit einigen Jahren war er im Ruhestand und wohnte mit seiner Frau hier in Crosby, Maine, in einem Haus, das sie am Rand einer kleinen Wiese gebaut hatten. Damals hatte Olive zu ihrem Mann gesagt: »Idiotisch, so viel Geld in ein Grundstück zu stecken, das nicht mal am Wasser liegt«, und Henry hatte ihr recht gegeben. Das mit Harvard wusste Olive nur, weil die Kellnerin im Segelclub ihr erzählt hatte, dass Jack Kennison es allen auf die Nase band.
    »Widerlich«, hatte Henry mit echtem Abscheu gesagt. Sie hatten nie mit den Kennisons geredet, sie waren nur manchmal in der Stadt an ihnen vorbeigegangen oder hatten sie
beim Frühstück im Clubhaus gesehen. Henry grüßte immer, und Mrs. Kennison grüßte zurück. Sie war eine kleine Frau, die viel lächelte.
    »Sie wird sich ihre ganze Ehe damit geplagt haben, seine Stoffeligkeit auszugleichen«, sagte Olive, und Henry nickte. Henry wurde nicht so recht warm mit Sommergästen oder Senioren, die an die Küste zogen, um ihren Lebensabend vor einer Kulisse gebrochenen Lichts zu verbringen. Sie waren in der Regel wohlhabend, und einige waren aufreizend überheblich. Ein Mann etwa fühlte sich berufen, einen Artikel in der Lokalzeitung zu veröffentlichen, in dem er sich über die Einheimischen lustig machte und sie kalt und hochmütig nannte. Und eine Frau hatte angeblich ihren Mann in Moodys Laden gefragt: »Warum ist hier in Maine jeder fett, und warum sehen sie alle debil aus?« Es hieß, sie sei eine Jüdin aus New York, was die Sache nicht besser machte. Noch heute gab es Leute, die lieber eine Muslimfamilie bei sich aufgenommen hätten, als sich von New Yorker Juden beleidigen zu lassen. Jack Kennison war weder jüdisch noch aus New York, aber er kam nicht von hier, und er hatte eine arrogante Art.
    Als die Kellnerin im Segelclub berichtete, dass die Kennisons eine lesbische Tochter hatten, die in Oregon lebte, und dass Mr. Kennison derjenige sei, der damit nicht zurechtkam, sagte Henry: »Oh, das ist nicht gut. Man muss seine Kinder nehmen, wie sie sind.«
    Aber Henry war schließlich nie auf die Probe gestellt worden: Christopher war nicht homosexuell. Seine Scheidung hatte Henry noch miterlebt, aber ein schwerer Schlaganfall kurz danach (und niemand konnte Olive erzählen, dass die Scheidung ganz daran unschuldig war) hatte ihn gelähmt und verhindert, dass er es mitbekam, als Christopher wieder heiratete. Und noch bevor das Baby geboren wurde, war Henry im Pflegeheim gestorben.

    Auch anderthalb Jahre danach schnürte es Olive noch das Herz zusammen, wenn sie daran dachte. Wie ein Päckchen vakuumverpackter Kaffee kam sie sich vor, als sie jetzt durch das Morgengrauen fuhr, beide Hände fest am Lenkrand, den Oberkörper zur Windschutzscheibe vorgebeugt. Sie war noch bei Dunkelheit aus dem Haus gegangen wie so oft, und während der zwanzig Minuten, die sie die
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