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Mit Blick aufs Meer - Mit Blick aufs Meer - Olive Kitteridge

Titel: Mit Blick aufs Meer - Mit Blick aufs Meer - Olive Kitteridge
Autoren: Elizabeth Strout
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dir das vorstellen?«
    »Ich hab meinen Sohn wirklich geprügelt«, sagte Olive. »Ein paarmal, als er noch klein war. Nicht nur den Hintern versohlt. Geprügelt.«
    Jack Kennison nickte, einmal nur.
    Sie trat über die Schwelle, stellte ihre Handtasche auf dem Boden ab. Er setzte sich nicht auf, er blieb einfach auf dem Bett liegen, ein alter Mann mit einem Bauch, der sich hochwölbte wie ein Sack Sonnenblumenkerne. Seine blauen Augen sahen ihr entgegen, als sie zu ihm ging, und das Zimmer war erfüllt von sonniger Nachmittagsstille. Sonne strömte durchs Fenster und schräg über den Schaukelstuhl, über die ganze Breite der Tapete ergoss sie sich. Die Mahagoniknäufe der Bettpfosten schimmerten. Draußen vor der Fensterbucht sah sie das Blau des Himmels, die Lorbeerbüsche, die Steinmauer. Die Nachmittagsstille schien die ganze Welt auszufüllen. Ein Sonnenstrahl strich über Olives bloßes Handgelenk, und ein kleiner Schauder durchlief sie. Sie schaute Jack an, sah weg,
sah wieder zu ihm hin. Sich neben ihn setzen, das hieße die Augen verschließen vor der gähnenden Einsamkeit dieser sonnigen Welt.
    »Gott, ich hab Angst«, sagte er leise.
    Fast hätte sie gesagt: »Ach, halt den Mund. Ich hasse Leute, die Angst haben.« Zu Henry hätte sie das sicher gesagt, zu beinahe jedem. Vielleicht weil sie mit ihrer eigenen Angst nicht zurechtkam - aber das dachte sie nur ganz flüchtig, während Widerwille und ein zaghaftes Begehren miteinander kämpften. Die Erinnerung an Jane Houlton im Wartezimmer war es, die sie ans Bett treten ließ - die plötzliche Erinnerung an die Gelöstheit, mit der sie diese harmlosen kleinen Bemerkungen mit Jane ausgetauscht hatte, einfach weil Jack im Sprechzimmer des Arztes sie brauchte und ihr so einen Platz in der Welt gab.
    Seine blauen Augen beobachteten sie unverwandt; sie sah die Verletzlichkeit darin, die Aufforderung, die Furcht, als sie sich wortlos hinsetzte, ihm die flache Hand auf die Brust legte und das Schlagen seines Herzens spürte, das irgendwann stehenbleiben würde, wie jedes Herz. Aber jetzt gab es kein Irgendwann, jetzt gab es nur die Stille dieses sonnendurchfluteten Zimmers. Sie beide gab es, und Olives Körper- alt, dick, schlaff - sehnte sich unverhohlen nach seinem. Dass sie bei Henry nichts dergleichen mehr empfunden hatte, schon Jahre vor seinem Tod nicht, versetzte ihr einen solchen Stich, dass sie die Augen schließen musste.
    Was doch die Jungen alles nicht wussten, dachte sie, als sie sich neben diesen Mann legte und er sie an der Schulter berührte, am Arm, oh, was die Jungen alles nicht wussten. Sie wussten nicht, dass unförmige, alte, verschrumpelte Körper so hungrig waren wie ihre eigenen festen Leiber; dass Liebe nicht leichtsinnig abgewiesen werden durfte, als wäre sie ein Törtchen auf einem Teller voller Süßigkeiten, der immer
wieder herumgereicht wird. Nein, wenn Liebe zu haben war, dann griff man entweder zu, oder man griff nicht zu. Und ihr Teller war randvoll gewesen von der Güte Henrys, aber sie hatte darüber die Nase gerümpft, hatte immer wieder entnervt ganze Brocken weggeworfen, alles nur, weil sie nicht begriff, was eigentlich jeder Mensch begreifen sollte: dass so Tag um Tag unter den Fingern zerrann.
    Und wenn der Mann neben ihr kein Mann war, den sie sich früher einmal ausgesucht hätte, was machte das schon? Er hätte sie sich ja bestimmt auch nicht ausgesucht. Aber hier waren sie nun, und Olive musste an zwei zusammengeklappte Scheiben Schweizerkäse denken, solche Löcher brachten sie beide zu dieser Vereinigung mit - solche Stücke fraß das Leben aus einem heraus.
    Sie ließ die Augen zu, und durch ihr müdes Hirn rollten Wellen der Dankbarkeit - und der Trauer. Hinter ihren Lidern sah sie das sonnige Zimmer, die sonnenübergossene Mauer draußen, den Lorbeer. Ein Rätsel, diese Welt. Noch war sie nicht fertig mit ihr.

Die Originalausgabe erschien 2008
unter dem Titel Olive Kitteridge bei Random House, New York.
     
     
    1. Auflage
    Copyright © der Originalausgabe 2008 Elizabeth Strout
    Copyright © der deutschsprachigen Ausgabe 2010
Luchterhand Literaturverlag, München,
in der Verlagsgruppe Random House GmbH
    eISBN : 978-3-641-04072-7
     
    www.luchterhand-literaturverlag.de
    www.randomhouse.de
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