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Mit Blick aufs Meer - Mit Blick aufs Meer - Olive Kitteridge

Titel: Mit Blick aufs Meer - Mit Blick aufs Meer - Olive Kitteridge
Autoren: Elizabeth Strout
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Frau kennenlernen sollen.
    »Danke«, sagte Rebecca. »Das ist echt nett von Ihnen.«
    »Also, schicken Sie’s einfach zurück, wenn’s zu weit ist. Das ist gar kein Problem«, versicherte die Frau ihr. »Wirklich nicht.«
     
    Der Tod von Rebeccas Vater war nicht das Bitterste. Und auch nicht, dass sie keine Mutter hatte. Das Bitterste war, als sie sich an der Uni in Jace Burke verliebte und er Schluss mit ihr machte. Jace war Klavierspieler, und als ihr Vater einmal zu einer Tagung fuhr, nahm sie Jace über Nacht mit nach Crosby. Jace schaute sich im Pfarrhaus um und sagte: »Mann, ist das eine seltsame Hütte hier, Baby«, und so liebevoll, wie er sie dabei ansah, schien sich alles Dunkle in ihrer Vergangenheit sanft in nichts aufzulösen. Später gingen sie ins Warehouse Bar & Grill, wo die Pianistin immer noch die leicht wunderliche Angela O’Meara war. »Die Frau ist einsame Spitze«, sagte Jace.
    »Mein Vater lässt sie auf dem Klavier in der Kirche spielen, sooft sie möchte. Sie hat nämlich kein eigenes«, erklärte Rebecca. »Hatte sie nie.«
    »Einsame Spitze«, wiederholte Jace leise, und Rebecca dachte plötzlich mit neuer Zärtlichkeit an ihren Vater, als hätte auch er in der armen, angesäuselten Angela eine Größe entdeckt, von der Rebecca nichts geahnt hatte. Auf dem Weg nach draußen ließ Jace einen Zwanzigdollarschein in Angelas Trinkgeldglas gleiten. Angela machte einen Kussmund in ihre Richtung und spielte »Hello, Young Lovers«, während sie gingen.
    Nachdem Jace sein Studium geschmissen hatte, spielte er in Bars in ganz Boston. Manchmal waren es Nobelbars mit
dicken Teppichen und Ledersesseln, und manchmal hing an der Tür sogar ein Plakat mit Jaces Bild darauf. Aber oft hatte er weniger Glück, und dann musste er in Striplokalen Hammondorgel spielen, um wenigstens ein bisschen was zu verdienen.
    Jedes Wochenende nahm Rebecca den Greyhound-Bus und fuhr zu ihm in seine verdreckte kleine Wohnung mit den Kakerlaken in der Besteckschublade. Wenn sie dann am Sonntagabend zurückkam, rief sie ihren Vater an und erzählte ihm, wie fleißig sie studierte. Später, als sie schon mit David zusammenwohnte, gestattete sie sich manchmal ein paar Erinnerungen an diese Wochenenden mit Jace. An die schmuddeligen Laken direkt auf der Haut. An dieses Gefühl, nackt auf Jaces Aluminiumstühlen zu sitzen und Toasties zu essen, gleich neben dem offenen Fenster, das von einer dicken Dreckschicht eingefasst war. Sie sah sich wieder nackt an dem verdreckten Waschbecken stehen, hinter ihr Jace, auch er nackt, vor ihnen ihre Spiegelbilder. Damals spukte ihr nicht die Stimme ihres Vaters durch den Kopf, nicht der Gedanke an Männer, die nicht besser waren als Köter. Es war alles kinderleicht.
    Eines Abends in der Badewanne erzählte ihr Jace von einer blonden Frau, die er kennengelernt hatte. Rebecca saß mit dem Waschlappen in der Hand da und starrte auf den gesprungenen Kitt am Wannenrand, auf den Dreck, der sich in den Rissen eingenistet hatte. So was passiert nun mal, sagte Jace.
    In der Woche darauf rief ihr Vater an. Bis heute begriff Rebecca nicht ganz, was genau mit seinem Herzen nicht gestimmt hatte; er hatte nichts Näheres gesagt. Nur dass die Ärzte nichts mehr machen konnten. »Aber sie können alles Mögliche machen, Daddy«, sagte sie. »Ich meine, man hört doch von allen möglichen Herzoperationen und so.«

    »Nicht bei meinem Herzen«, antwortete er, und aus seiner Stimme klang Furcht. Die Furcht ließ in Rebecca den Verdacht aufkeimen, dass ihr Vater vielleicht gar nicht glaubte, was er all die Jahre gepredigt hatte. Aber obwohl sie die Furcht in seiner Stimme hörte, obwohl sie diese Furcht selber spürte, blieb das Allerschlimmste doch das mit Jace und der Blonden.
     
    »Kannst du mir verraten«, sagte David, »was ein Waschlappen im Eisfach macht?«
    »Ich hab den Job nicht gekriegt«, sagte Rebecca.
    »Echt nicht?« David schloss den Kühlschrank wieder. »Das hätte ich jetzt nicht gedacht. Irgendwie hatte ich das Gefühl, diesmal klappt es. Was erwarten die? Einen Doktortitel?« Er brach sich ein Stück von dem Baguette ab, das auf der Anrichte lag, und tunkte es in ein Glas mit Spaghettisoße. »Arme Bicka-Beck«, sagte er kopfschüttelnd.
    »Vielleicht war es, weil ich von meinem Barium-Einlauf neulich angefangen habe«, sagte Rebecca mit einem Achselzucken. Sie drehte die Flamme herunter, damit das Nudelwasser nicht überkochte. »Ich hab eine Menge geredet«, gab sie zu.
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