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Mit Blick aufs Meer - Mit Blick aufs Meer - Olive Kitteridge

Titel: Mit Blick aufs Meer - Mit Blick aufs Meer - Olive Kitteridge
Autoren: Elizabeth Strout
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über irgendetwas reden wollen, jederzeit.«
    Rebecca hatte nicht geantwortet und sich nur mit ihren Büchern an ihr vorbeigeschoben.
     
    »Ich bin dann mal weg.« David zog den Reißverschluss an seiner Sporttasche zu. »Die Nummer wegen der Zahnarzthelferin hast du?«
    »Ja«, sagte Rebecca.
    »Viel Glück, Bicka-Beck«, sagte David. Er ging zum Kühlschrank und trank Orangensaft direkt aus der Tüte. Dann nahm er seinen Schlüsselbund und gab ihr einen Kuss. »Denk dran«, sagte er. »Schön selbstbewusst auftreten und nicht zu viel reden.«
    »Ist gut«, sagte Rebecca und nickte. »Tschüs.« Sie blieb am Tisch sitzen, vor den schmutzigen Müslischalen, und dachte über ihre Redesucht nach. Dieses Bedürfnis zu reden war kurz nach dem Tod ihres Vaters über sie gekommen und
seitdem nicht mehr weggegangen. Es war fast ein körperlicher Zwang; Rebecca versuchte, das Reden aufzugeben wie andere Leute das Rauchen.
    Eine eiserne Regel ihres Vaters hatte gelautet: Bei Tisch wird nicht gesprochen. Eine sonderbare Regel, so betrachtet, denn es saßen ja nur sie beide in dem kleinen Esszimmer im Pfarrhaus. Vielleicht war ihr Vater ja einfach müde, wenn er am Ende des Tages von seinen Kranken und Sterbenden zurückkam - die Stadt war klein, aber Kranke gab es eigentlich immer, und nicht selten lag auch jemand im Sterben -, und brauchte die Stille, damit er ausruhen konnte. Jedenfalls saßen sie Abend für Abend gemeinsam beim Essen, und es war nichts zu hören außer dem gelegentlichen Klimpern des Bestecks auf den Tellern, dem Klacken, mit dem ein Wasserglas auf dem Tisch aufgesetzt wurde, und den leisen, zu intimen Kaugeräuschen aus ihren Mündern. Manchmal blickte Rebecca auf und sah, dass ihrem Vater ein Essensbröckchen am Kinn klebte, und dann konnte sie plötzlich kaum mehr schlucken, so lieb hatte sie ihn. Aber an anderen Tagen, besonders als sie älter wurde, beobachtete sie zufrieden, wie viel Butter er aß. Seine Schwäche für Butter war ihre Trumpfkarte, und sie hoffte, dass sie ihm irgendwann zum Verhängnis wurde.
    Sie stand auf und spülte die Müslischalen aus. Dann wischte sie die Arbeitsfläche sauber und rückte die Stühle gerade. Ein Hitzepünktchen fing in ihrem Magen zu glühen an, deshalb holte sie die Maalox-Flasche und den Maalox-Löffel, und als sie die Flasche schüttelte, sah sie plötzlich wieder David vor sich, wie er sich vorhin über sie gebeugt und sie ermahnt hatte, nicht zu viel zu reden, und schlagartig begriff sie, dass ihm L zu weit sein würde.
    »Kein Problem«, sagte die Frau. »Ich schau mal eben, ob die Bestellung schon raus ist.«

    Ein Restchen getrocknetes Maalox wollte partout nicht vom Löffel abgehen, auch nicht, als sie mit dem Fingernagel daran kratzte. Rebecca legte den Löffel auf die Anrichte zurück. »Das hätt ich nicht gedacht, dass ich zweimal denselben Menschen erwische«, sagte sie. »Verrückt. Gut, vielleicht ist es einfach eine sehr kleine Firma.« Keine Antwort. »Ich meine, eine kleine Firma ist für mich völlig in Ordnung«, sagte Rebecca und riss zwei Seiten der Geschichte aus der Zeitschrift. Auch diesmal kam keine Antwort, und Rebecca merkte, dass sie in der Warteschleife gelandet war. Sie schaute zu, wie die Seiten Feuer fingen - der Teil, wo die Frau ihn verließ. Die Flamme loderte bis über den Rand der Spüle. Ein nervöses Kribbeln stieg in Rebecca auf; sie wartete, die Hand am Wasserhahn, aber die Flamme sank in sich zusammen.
    »Keine Sorge«, sagte die Frau am anderen Ende, »die Bestellung ist zwar schon raus, aber wenn’s zu weit ist, schicken Sie’s einfach zurück, und Sie kriegen eins in Medium. Und, wie geht’s Ihrem Kopf heute?«
    »Das wissen Sie noch?«, staunte Rebecca.
    »Natürlich weiß ich das noch«, sagte die Frau.
    »Kopfweh hab ich heute keins mehr«, sagte Rebecca. »Aber dafür hab ich ein anderes Problem. Ich muss eine Arbeit finden.«
    »Jetzt grade haben Sie keine?«, fragte die Frau mit ihrer netten Südstaatenstimme.
    »Nein, ich muss mir eine suchen.«
    »Doch, ja«, sagte die Frau, »Arbeit ist wichtig. Nach was für einem Job suchen Sie denn?«
    »Einem mit nicht so viel Stress«, sagte Rebecca. »Nicht, weil ich faul wäre oder so«, sagte sie, und dann: »Na ja, vielleicht bin ich’s ja doch, vielleicht bin ich faul.«
    »Sagen Sie so was nicht«, sagte die Frau, »ich bin sicher, das stimmt nicht.«

    Sie war ein wunderbarer Mensch. Rebecca musste an den Mann in der Geschichte denken - er hätte diese
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