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Miss Lonelyhearts

Miss Lonelyhearts

Titel: Miss Lonelyhearts
Autoren: Nathanael West
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an ein Kindheitserlebnis zu erinnern. An einem Winterabend hatte er mit seiner kleinen Schwester darauf gewartet, dass ihr Vater aus der Kirche zurückkam. Sie war damals acht, und er war zwölf. Traurig wegen der Pause zwischen Spiel und Essen, war er zum Klavier gegangen und hatte ein Stück von Mozart angefangen. Es war das erste Mal, dass er freiwillig ans Klavier gegangen war. Seine Schwester ließ ihr Bilderbuch liegen, um zu seiner Musik zu tanzen. Sie hatte noch nie getanzt. Sie tanzte ernst und bedachtsam, einen einfachen, aber feierlichen Tanz … Während Miss Lonelyhearts an der Theke stand und sich langsam zu der Musik seiner Erinnerung wiegte, dachte er an tanzende Kinder. Erst im Rechteck, dann im Quadrat und schließlich im Kreis. Alle Kinder, allerorten; auf der ganzen Welt gab es kein Kind, das nicht ernst und entzückend tanzte.
    Er trat von der Theke zurück und prallte versehentlich mit einem Mann zusammen, der ein Glas Bier in der Hand hielt.
    Als er sich umdrehte, um den Mann um Entschuldigung zu bitten, kriegte er einen Schlag auf den Mund verpasst.
    Später fand er sich an einem Tisch im Hinterzimmer wieder, wie er mit einem losen Zahn spielte. Er wunderte sich, dass ihm der Hut nicht passte, und entdeckte eine Beule am Hinterkopf. Er musste gestürzt sein. Die Hürde war höher, als er gemeint hatte.
    Sein Zorn schwappte in großen trunkenen Kreisen. Was in Christi Namen war eigentlich dieses Christus-Business? Und Kinder, die feierlich tanzten? Er würde Shrike um die Versetzung ins Sportressort bitten.
    Ned Gates kam herein, um nach ihm zu sehen, und schlug frische Luft vor. Auch Gates war sturzbetrunken. Als sie zusammen die Kneipe verließen, stellten sie fest, dass es schneite.
    Miss Lonelyhearts’ Zorn wurde kalt und nass wie der Schnee.
    Er und sein Kumpan torkelten mit gesenktem Kopf ihres Wegs und bogen aufs Geratewohl um Ecken, bis sie sich vor dem kleinen Park befanden. In der Bedürfnisanstalt brannte Licht, und sie gingen hinein, um sich aufzuwärmen.
    Auf einer der Toiletten saß ein alter Mann. Die Tür seiner Kabine stand offen, und er saß auf dem heruntergeklappten Klosettdeckel.
    Gates sprach ihn an. «Na, es geht doch nichts über die Gemütlichkeit, wie?»
    Der Alte zuckte vor Angst zusammen, aber brachte schließlich hervor: «Was wollen Sie? Bitte lassen Sie mich in Ruhe.» Seine Stimme war wie eine Flöte; sie vibrierte nicht.
    «Wenn du keine Frau kriegen kannst, nimm dir einen sauberen alten Mann», 23 sang Gates.
    Der Alte sah aus, als würde er gleich zu weinen anfangen, lachte stattdessen aber unvermittelt auf. Aus seinem Lachen wurde ein schreckliches Husten, das auf dem Grund seiner Lungen einsetzte und in die Kehle hochschoss. Er drehte sich weg, um sich den Mund abzuwischen.
    Miss Lonelyhearts versuchte Gates zum Weggehen zu bewegen, der aber weigerte sich, ohne den Alten zu gehen. Beide packten sie ihn und zerrten ihn aus der Kabine und durch die Tür der Bedürfnisanstalt. Er wurde in ihren Armen schlaff und begann zu kichern. Miss Lonelyhearts unterdrückte den Wunsch, ihn zu schlagen.
    Es schneite nicht mehr und war sehr kalt geworden. Der Alte hatte keinen Mantel an, sagte aber, er finde die Kälte erfrischend. Er hatte einen Gehstock und trug Handschuhe, da er rote Hände abstoßend fand, wie er sagte.
    Statt ins «Delehanty’s» zurückzukehren, gingen sie in einen italienischen Keller unweit des Parks. Der Alte versuchte sie zum Kaffeetrinken zu überreden, doch sie sagten, das gehe ihn nichts an, und tranken Rye. Der Whisky brannte auf Miss Lonelyhearts’ aufgeplatzter Lippe.
    Gates störten die gedrechselten Manieren des Alten. «Hören Sie mal», sagte er, «lassen Sie das vornehme Getue und erzählen Sie uns die Geschichte Ihres Lebens.»
    Der Alte richtete sich entrüstet auf wie ein kleines Mädchen, das seinen Bizeps vorweisen will.
    «Ach was, lassen Sie schon gut sein», sagte Gates. «Wir sind Wissenschaftler. Er ist Havelock Ellis 24 , und ich bin Krafft-Ebing 25 . Wann haben Sie zum ersten Mal homosexuelle Neigungen bei sich entdeckt?»
    «Was wollen Sie damit sagen? Ich … »
    «Tja, ich weiß schon, aber inwiefern sind Sie anders als andere Männer?»
    «Wie können Sie es wagen … » Er gab einen leisen entrüsteten Schrei von sich.
    «Ruhig, ruhig», sagte Miss Lonelyhearts, «er wollte Sie nicht beleidigen. Wissenschaftler haben furchtbar schlechte Manieren … Aber Sie sind doch pervers, oder?»
    Der Alte hob den Stock, um ihn
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