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Mirage: Roman (German Edition)

Mirage: Roman (German Edition)

Titel: Mirage: Roman (German Edition)
Autoren: Matt Ruff
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wie er sagte, den reichen Bagdader Witwen, die ältere Junggesellen unwiderstehlich finden, besser zu Diensten sein zu können. Das mit den Witwen war gar nicht so unernst gemeint – Abu Mustafa hatte schon immer die Gesellschaft von Frauen genossen –, aber Mustafa wusste, dass er es auch genoss, selbstständig zu sein, wenn und falls er Lust dazu hatte, unter Leute zu gehen, Verwandte und Freunde zu besuchen und den Tag dann mit seinen Büchern und seinen eigenen Gedanken in Ruhe ausklingen zu lassen.
    Mustafa hatte ihm geholfen, die Wohnung – die in einem Altbau war, in bequemer Nähe zur Flusspromenade und den Läden und Cafés auf der Sadun-Straße – zu finden und zu bezahlen. Das Viertel war religiös gemischt, was zum Zeitpunkt seines Einzugs noch kein Problem darstellte. Seit dem 9.11. allerdings waren Hassdelikte in der ganzen Stadt an der Tagesordnung, und man brauchte kein Christ zu sein, um in Schwierigkeiten zu geraten. Mustafas Vater war Sunnit; seine Mutter war Schiitin gewesen. Auf die Frage, was er selbst also sei, hatte Mustafa von jeher geantwortet: »Ein Muslim natürlich.« Aber für manche Bagdader, die im Einsturz der Türme eine Strafe Gottes gesehen hatten, war diese Antwort nicht mehr gut genug. Fast jeden Tag erfuhr man jetzt in den Nachrichten, dass ein Muslim verprügelt worden war – oder schlimmer, weil er der »falschen« Konfession angehörte.
    Mustafa machte sich Sorgen, sein Vater könnte zur Zielscheibe irgendeines Idioten werden, der glaubte, »Gott, der Allbarmherzige« legitimiere ihn zu allem. Hinzu kam, dass sein Vater merklich abbaute. In letzter Zeit kam es gelegentlich vor, dass Abu Mustafa, wenn er aus dem Haus ging, später Schwierigkeiten damit hatte, wieder zurückzufinden. Für seine Orientierungslosigkeit machte er geheimnisvolle Veränderungen in der Stadt verantwortlich – altvertraute Wahrzeichen sähen jetzt anders aus oder stünden nicht mehr da, wo sie hingehörten. Zum Teil lag das zweifellos daran, dass tatsächlich viel gebaut wurde, aber als Abu Mustafa anfing zu behaupten, auch der Verlauf der Straßen habe sich geändert, wusste Mustafa, dass mehr dahintersteckte.
    Abu Mustafa lehnte jeden Vorschlag, in ein ruhigeres, »weniger verwirrendes« Viertel umzuziehen, rundheraus ab, also musste ein Alternativplan her. Mustafas Onkel Tamir und Tante Rana mieteten sich eine Wohnung im selben Gebäude. Sie hatten acht Kinder, so war immer irgendeine Nichte oder ein Neffe verfügbar, um Abu Mustafa im Auge zu behalten. Mustafa selbst zog nach längeren Verhandlungen ins Gästezimmer seines Vaters. Die offizielle, das Gesicht wahrende Erklärung lautete, dies sei zu Mustafas Bequemlichkeit, weil er dadurch eine kürzere Anfahrt zu seinem Arbeitsplatz habe.
    Mustafa und sein Vater kamen recht gut miteinander aus, solange Mustafa darauf achtete, ihn nicht zu sehr zu bemuttern. Das war nicht immer einfach. In letzter Zeit hatte Abu Mustafa eine heftige Abneigung gegen die Klimaanlage entwickelt. Anfangs dachte Mustafa, es sei das Geräusch, das ihn störte, und er bot an, die Wohnung auf eigene Kosten mit einer leiseren Anlage ausstatten zu lassen. Doch Abu Mustafa sagte, es sei nicht das Geräusch; das Problem sei, dass eine Klimaanlage falsch war.
    »Was soll das heißen, ›falsch‹? Du hältst es für eine Sünde, sich wohlzufühlen?«
    »Von Sünde habe ich nichts gesagt!« Abu Mustafa wurde ärgerlich. »Es ist nicht unmoralisch, es ist einfach … falsch.«
    Inzwischen wachte Mustafa zwei-, dreimal die Woche – unweigerlich in den heißesten Nächten – schweißgebadet auf, weil sein Vater die Klimaanlage ausgeschaltet hatte. Dann hatte es, letzte Woche, eine neue Entwicklung gegeben: Mustafa war aufgewacht, um festzustellen, dass die Klimaanlage noch lief, das Schlafzimmer seines Vaters aber leer war. Nach einer panischen Suche sah er, dass Abu Mustafa eine dünne Matratze mitgenommen hatte und auf die Dachterrasse gegangen war, um im Freien zu schlafen – wie das die Bagdader früher, bevor es Elektrizität in der Stadt gab, immer getan hatten.
    »Was ist los?«, fragte Abu Mustafa, über Mustafas Sorge verblüfft. »Glaubst du vielleicht, ich fall runter?«
    »Im Schlaf kann alles Mögliche passieren«, sagte Mustafa. »Es ist gefährlich hier oben.«
    »So Gott will, ist es nicht gefährlicher als sonst wo in der Stadt. Selbst mit den Lichtern der Stadt kann man die Sterne sehen. Die Sterne sind noch so, wie es sich gehört.«
    Als er vom
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