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Minerva - sTdH 1

Minerva - sTdH 1

Titel: Minerva - sTdH 1
Autoren: Marion Chesney
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der Grafschaft zu sein, wenn
Minerva in London war. Vielleicht konnte sie beim Jägerball ein bißchen
flirten, ohne Minervas kalten und mißbilligenden Blick auf sich zu fühlen.
    Mrs.
Armitage träumte einen rosaroten Traum von Londoner Ärzten und Apothekern,
deren köstliche Medizinfläschchen im Kerzenschein der Schaufenster funkelten
wie die Juwelen in Aladins Höhle.
    Der Pfarrer
trieb geschickt den letzten Nagel in Minervas Sarg.
    »Ich weiß,
es ist schwer für dich, Minerva«, sagte er, »aber du mußt für deine Familie ein
Opfer bringen. Du mußt dich aufopfern. Ach, ich weiß, es ist wirklich zuviel
verlangt.«
    Minervas
Augen bekamen einen sanften Glanz. Sie wurde von ihrer Familie gebraucht, so
wie sie sie immer gebraucht hatte.
    »Ich gehe,
Papa«, sagte sie und warf dabei den Kopf zurück, als ob man sie unter die
Guillotine und nicht auf eine unterhaltsame Vergnügungstour schicken wollte.
    »Gutes
Mädchen«, sagte der Pfarrer geistesabwesend. Da er erreicht hatte, was er
wollte, verlor er das Interesse an Minerva. Er mußte natürlich diesen
vertrackten Brief an Lady Godolphin schreiben, aber wenn sie zusagte, konnte er
seine Älteste im Frühjahr aus der familiären Geborgenheit entlassen und ganz
schnell nach London bringen.
    Minerva
zwang sich, an diesem Abend ihre Aufgaben zu erfüllen, als ob nichts
Welterschütterndes passiert wäre.
    Die Kinder
wollten die Tatsache, daß Minerva in die Gesellschaft eingeführt werden sollte,
als Vorwand benützen, um länger aufzubleiben. Aber Minerva bestimmte, daß sie
zur üblichen Zeit ins Bett müßten. Um ihnen eine Freude zu machen, versprach
sie ihnen aber, eine Geschichte vorzulesen.
    Das
Pfarrhaus war ein behagliches Gebäude mit einem Eßzimmer, einem Salon, einem
Empfangszimmer und einem Arbeitszimmer im Erdgeschoß, sechs Schlafzimmern im
ersten Stock und den Räumen für die Bediensteten im Dachgeschoß. Die
Dienerschaft war nicht groß: eine Haushälterin, die in der Küche herrschte;
ein Hausmädchen, das zugleich für den Empfang zuständig war, wenn Besuch kam;
einen Diener für verschiedene Aufgaben, der bei großen Anlässen zugleich
Butler war; John Summer, der als Stallknecht, Kutscher, Hundepfleger und
Vorreiter bei der Fuchsjagd diente; einen Jungen, der Bestecke und Stiefel
putzte, aber auch Page war, wenn es die Gelegenheit erforderte; und eine Frau,
die täglich aus dem Dorf kam, für die gröberen Arbeiten.
    Die Jungen
hatten ein Zimmer für sich, Mr. und Mrs. Armitage hatten getrennte
Schlafzimmer, und die sechs Schwestern teilten sich in die verbleibenden drei
Räume – zwei Schwestern schliefen jeweils zusammen.
    Abgesehen
von Annabelle, die sich mit ihren sechzehn Jahren für zu alt für
Gutenachtgeschichten hielt, drängelten sich alle anderen Kinder in dem
Jungenschlafzimmer um Minerva, in
der Hoffnung, diesmal eine etwas lustigere Geschichte als sonst zu hören.
    Ihre
Hoffnungen wurden jedoch enttäuscht, als Minerva mit ihrer beruhigenden,
angenehmen Stimme zu lesen begann.
    Es war eine
Geschichte von zwei Schuljungen: einem ruhigen und ernsten, der nie log, und
einem großen und hübschen Sprößling aus einer vornehmen Familie, der sportlich
und behende war.
    Der ernste
hieß Claud, und der lebhafte Guy. Das war zugegebenermaßen ein
vielversprechender Anfang. Die Jungen prophezeiten Guy gleich kein gutes Ende,
und die Mädchen waren begeistert und überrascht, daß in einer von Minervas
Gutenachtgeschichten ein strahlender Held vorkam.
    Aber schade
um den hinreißenden Guy. Die Kinder hätten wissen können, daß er nicht zum
Helden bestimmt war. Zwar gewann er alle Kricketspiele für seine Schule, zwar
schmeichelte man ihm und bewunderte ihn, während man auf den ernsten und
bescheidenen Claud herabsah. Aber nur zu bald sollte sich herausstellen, daß
dieses hübsche Äußere nichts anderes war als ein ›übertünchtes Grab‹.
    »Was für
ein Grab, was hast du da gelesen?« fragte Perry.
    »Ich weiß
es«, sagte die rothaarige Deirdre schüchtern. »Es steht in der Bibel bei
Matthäus und bedeutet, daß jemand außen hübsch scheint, aber innen verdorben
und voller Unrat ist.«
    Minerva
nickte, und die anderen Mädchen schrien verängstigt auf.
    »Guy
nicht!« riefen sie, da sich ihre Phantasie bereits an diesem Bilderbuchhelden
entzündet hatte.
    »Hört zu!«
ermahnte Minerva und las weiter.
    Guy hatte
Claud auf sein Zimmer geschickt, um seine Mütze zu holen, da er auch
seinesgleichen wie Dienstboten zu
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