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Milner Donna

Milner Donna

Titel: Milner Donna
Autoren: River
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als würde ich mich selbst daran erinnern –, dass sie nämlich am Tag meiner Geburt, während er die Milch auslieferte, fünf Kilometer bergauf in die Stadt und zum Krankenhaus gelaufen ist.
    Ich kam am 12. August 1951 zur Welt. Genau an dem Tag, an dem zweiundsechzig Jahre zuvor meine Großmutter, Amanda Margaret Ward, geboren wurde. Sie war das erste Baby, das in St. Helena’s auf die Welt kam, in jenem Krankenhaus aus Ziegel- und Steinmauerwerk, dessen Fenster auf die Hauptstraße von Atwood hinunterblicken. Ihr Urenkel sollte das letzte Baby sein. Niemand erinnert sich heute noch an diese flüchtige Begebenheit, außer mir und vielleicht, in ihren lichteren Momenten, meiner Mutter.
    Heute Abend liegt sie in demselben Krankenhaus, möglicherweise in demselben Zimmer, in dem ich geboren wurde, und ruft meinen Namen.

4
     
    Nettie
     
    S IE HÖRT DAS B ABY WEINEN. Das Wimmern eines Neugeborenen weckt sie aus ihrem unruhigen Schlaf.
    Nein, Moment. Das kann nicht stimmen. Das Baby kam tot auf die Welt. Dieses aber weint. Wie kann das sein? Das Kind ist tot. Es ist im Himmel. Nein. Im Fegefeuer.
    Jetzt weiß sie, wo sie sich befindet. Bei ihm. In der Vorhölle. Für immer. Sie hat den ungetauften Kleinen dazu verdammt, die Ewigkeit in diesem Nichts zu verbringen. Sie verdient es, hier zu sein, er aber nicht. Sie muss jemandem sagen, dass er weint.
    »Pst, Nettie«, flüstert eine sanfte Stimme, »auf dieser Station gibt es keine Babys mehr.«
    Sie fühlt eine warme Hand auf der Stirn, die ihr die Haarsträhnen zurückstreicht. Einen Augenblick denkt sie, es sei Gus. Sollte sie es ihm sagen?
    Sie schwimmt nach oben, gegen die Strömung der Medikamente, die durch ihre Adern fließen. Sie treibt an die Oberfläche, um vertrauten Augen zu begegnen, liebevollen Augen. Sie gehören Barbara Mann, der Enkelin einer alten Freundin. Jetzt weiß sie, wo sie ist. Im Krankenhaus. In der ausgebauten Pflegeabteilung im dritten Stock.
    Barbara ist die Nachtschwester. Nettie hat ihr einst die Windeln gewechselt.
    Die Stimme, die Berührung ziehen Nettie empor, aber die Medikamente sind stärker. Sie kämpft darum, einen Augenblick länger dazubleiben. Sie versucht, den Arm der Schwester zu umklammern. Sie muss es ihr sagen.
    »Es ist alles gut, Nettie«, flüstert Barbara sanft. »Schlaf nur weiter.«
    Und Nettie ruft aus einem langen spiralförmigen Tunnel heraus: »Natalie!«
    Aber es ist die Stimme der Krankenschwester, die antwortet: »Pst, meine Liebe, schhhh … Es ist schon gut, Nettie. Lass einfach los.«
    Und Nettie ruft zurück: »Noch nicht. Noch nicht.« Aber es ist zu spät. Sie gleitet durch eine unsichtbare Falltür.
    Irgendwo weint das Baby, doch jetzt steht Nettie in ihrer Küche, auf der Farm.
    Das ist echt, denkt sie, der Rest war ein Traum.
    Alles ist so klar. Sie betrachtet das grün gesprenkelte Wachstuch auf dem Tisch. Ihre Finger zeichnen die Ringe nach, die tausend Kaffeebecher dort hinterlassen haben. Dieser Tisch, gezimmert von Gus’ Vater, ist so groß, dass ein Dutzend Leute daran Platz haben. Er ist massiv und so alt wie das Farmhaus. Alles, was für ihre Familie und die Farm von Bedeutung war, ist an diesem Tisch besprochen und geplant worden. Alles, was im Leben vorbereitet wurde. Das ganze Hacken, Würfeln, Einwecken und Einlegen; das ganze Rupfen, Ausnehmen, Kneten und Backen hat hier stattgefunden.
    Sie überprüft das auf der Tischplatte ausgebreitete Gemüse. Der Geruch nach lehmiger Erde haftet noch an den Kartoffeln, Karotten und Rüben. Sie muss sich sputen, damit alles fertig wird. Es gibt Berge von Fleisch, das klein geschnitten und fein gehackt werden muss, Hühner, die gerupft werden müssen. Sie wird es nie schaffen, bevor alle eintreffen.
    Natalies Schritte ertönen hinter ihr. Ihre Tochter geht fort. Nettie möchte sich umdrehen und ihr sagen, dass sie nicht weggehen soll, aber es gibt zu viel zu tun. Ihre Hände sind beschäftigt. Tschopp, tschopp, tschopp. Ein Haufen Fleischwürfel türmt sich vor ihr auf. Sie hört das Quietschen der Fliegentür. Sie nimmt eine Handvoll feuchtes Fleisch und wirft es in den Fleischwolf, der an die Tischkante angeschraubt ist.
    Die Küchentür fällt zu; Nettie dreht sich immer noch nicht um. Sie will laut rufen, aber zuerst muss sie das hier beenden. Schritte sind zu hören, langsam, zögernd, auf den Verandastufen. Nettie zählt jeden Schritt. Auf der vierten Stufe hält ihre Tochter inne und wartet, dass sie zurückgerufen wird. Nettie öffnet
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