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Milner Donna

Milner Donna

Titel: Milner Donna
Autoren: River
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übernehmen.«
    Vern besitzt eine Baumschule. Die meisten seiner Pflanzer sind zum Beginn des Studienjahrs an die Universität zurückgekehrt. Wir beide wissen, wie schwer es für ihn ist, sich loszueisen, doch mir ist klar, dass er es ernst meint. »Wir können mit dem Auto viel schneller da sein«, fügt er hinzu.
    »Nein, wirklich nicht. Es ist besser, wenn ich allein fahre.« Ich ziehe meinen Morgenmantel an. »Ich weiß nicht, wie lange ich bleiben muss. Und ich will nicht selber fahren, falls die Pässe zugeschneit sind. Mir macht es nichts aus, den Bus zu nehmen. Dann habe ich Zeit.«
    Zeit? Zeit wozu? Damit Mom sterben kann?
    Mit einer Anwandlung von Schuldgefühlen frage ich mich, ob ich absichtlich so lange gewartet habe. Mom und ich haben beide unsere Geheimnisse und unsere Anflüge von Reue. Ist es zu spät für die Beichten und Fragen, die ich immer hatte loswerden wollen?
    Ich tätschle Verns Schulter. »Schlaf weiter, ich studiere schon mal den Greyhound-Fahrplan.«
    Während ich nach oben lange, um die Lampe auszuschalten, klingt Verns Seufzen schwer vor Enttäuschung, aber er widerspricht nicht.
    Im Dunkeln gehe ich um das Bett herum zur Schlafzimmertür. Es ist eine Eigenart, die ich mir aus der Kindheit bewahrt habe, mir meinen Weg so zu ertasten, als wäre ich blind, die Schritte zu zählen und genau zu wissen, wo jedes Möbelstück steht. In letzter Zeit frage ich mich, wenn ich mich dabei erwische, ob ich mich auf diese Weise auf das Alter vorbereite.
    Der Mond scheint durch die Fenster meines Arbeitszimmers. Ich setze mich an den Computer, ohne die Lampen einzuschalten. Ich spare Strom. Erzwungene Gewohnheiten bleiben haften.
    Der Bildschirm flackert auf, sobald ich die Maus berühre. Es gab eine Zeit, da brachte ich mit »Maus« nur die feuchten grauen Klumpen vor der Küchentür in Verbindung: Geschenke, die die Stallkatzen auf unserer Veranda ablegten. Jetzt, nachdem ich seit Jahren meinen Lebensunterhalt als freiberufliche Journalistin verdiene, bewegt sich diese Maus aus Plastik wie eine Verlängerung meines Arms. Die Schrift, einst mit der Hand geschrieben, dann auf der Remington Manual getippt, fließt jetzt von den Fingerspitzen direkt auf den leuchtenden Bildschirm; selbst wenn ich mich vertippe, werden die Fehler sofort korrigiert.
    Der Greyhound-Fahrplan blitzt auf. Der nächste Bus fährt um sechs Uhr früh. Einschließlich Umsteigen und Warten an den Haltestellen dauert die Fahrt bis Atwood fünfzehn Stunden. Es ist, als hätten mich alle Wege meines Lebens immer weiter von jener abgelegenen Stadt in den West Kootenays weggeführt; als würde allein die Entfernung ausreichen als Entschuldigung, sie nicht zu besuchen, fernzubleiben von meiner Mutter und meinem Bruder. Und jetzt auch von meiner Tochter.
    Ich schiele auf meine Uhr hinunter. Dreiundzwanzig Uhr zehn. Zu spät, um Jenny anzurufen? Nein, wie ihre Großmutter ist meine Tochter eine Nachteule. Immer schon gewesen. Ihre nächtlichen Wanderungen sind nur eine der vielen Eigenarten, die sie geerbt hat.
    Sie sieht mir überhaupt nicht ähnlich, diese meine Tochter. Sie ist das Kind ihrer Großmutter. Das Haar mit den aschblonden Strähnen, die hohen markanten Wangenknochen, die himmelblauen Augen, der kleine Höcker auf der Nase und die makellose Haut, die so schnell sonnengebräunt ist – das alles hat eine Generation ausgelassen. Zumindest bei den Frauen. Boyer hat auch diese Züge, nur in kantiger Ausprägung. Die Augen, das Profil, das Lächeln, die Schönheit, die an meiner Mutter so einzigartig war – und immer noch ist.
    Im Laufe der Jahre haben viele Leute sie hübsch genannt, aber das ist ein viel zu beliebiges Wort für die klassische Schönheit meiner Mutter. Meine Tochter trägt jetzt diese Schönheit mit Anmut, zusammen mit dem bezaubernden Lächeln ihrer Großmutter.
    Mom und Boyer hat man oft für Bruder und Schwester gehalten. Und meine Tochter Jenny könnte ihr oder sein Kind sein.
    Ich habe die braunen Augen und Haare meines Vaters geerbt, seine milchweiße Haut und seine groben Züge. Ich sehe aus wie eine Frau, die ich tatsächlich geworden bin: eine Außenseiterin, eine Fremde.
    Ich wurde nach meiner Mutter genannt. Obwohl jeder sie Nettie nennt, lautet Moms richtiger Name Natalie Rose. Bei unserem Vornamen enden aber die Ähnlichkeiten. Ich hätte argwöhnen können, ein adoptiertes Kind zu sein, wenn ich die Geschichte nicht von Dad gehört hätte – so viele Male, dass es mir am Ende so vorkam,
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