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Milner Donna

Milner Donna

Titel: Milner Donna
Autoren: River
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noch ungeniert Jeans, obwohl er um die Taille etwas zugelegt hat. Dafür macht er sein erfolgreiches Geschäft verantwortlich, das ihn zwingt, mehr Zeit im Büro und immer weniger im Gelände zu verbringen.
    Seine wie gebräunt wirkende Haut, das dichte dunkle Haar und die fast schwarzen Augenbrauen lassen darauf schließen, dass es unter seinen Vorfahren auch Ureinwohner, Vertreter der First Nations, wie wir heute sagen, gegeben hat.
    »Wenn ich mich aus dem Geschäft zurückziehe, werde ich mich mit Genealogie befassen und meine Ahnenreihe zurückverfolgen«, sagte er einmal mit seinem schiefen Lächeln.
    Verns Mund ist asymmetrisch. Die linke Seite hebt sich höher als die rechte und zuckt, wenn er lächelt. Manchmal kann man nicht sagen, ob sein Lächeln echt ist oder ob er nur versucht, nicht zu grinsen. Man könnte leicht an seiner Aufrichtigkeit zweifeln – wenn er eben nicht Vern wäre.
    Es ist nicht zu übersehen, dass ich nicht die Einzige bin, die ihn attraktiv findet. Manchmal sehe ich in den Augen fremder Frauen die Frage aufblitzen: Was findet der an ihr? Gelegentlich stelle ich mir selbst diese Frage.
    Vern sagt, es sei meine Eigenständigkeit, die er so anziehend gefunden habe. Jetzt nennt er es Dickköpfigkeit.
    Er beugt sich über das Waschbecken, um auszuspucken. Als er sich wieder aufrichtet, ertappt er mich dabei, wie ich ihn im Spiegel mustere. »Was gibt’s?«
    Ich öffne den Mund, und fast hätte ich sein Angebot angenommen. Wie einfach wäre es, wenn er mit mir käme, wenn er sich um mich kümmerte. Aber ich habe ihn nie mit meiner Vergangenheit belastet. Es ist zu spät, jetzt damit anzufangen.
    »Nichts«, sage ich und drehe mich zum begehbaren Schrank. Während ich in der Schublade krame, in der ich meine Unterwäsche aufbewahre, durchzuckt mich plötzlich der Gedanke, was ich bei einer Beerdigung tragen würde.
    Der Beerdigung meiner Mutter.
    Die Vorstellung, an einer Trauerfeier in St. Anthony’s teilzunehmen, in der vordersten Kirchenbank zu sitzen, während die monotone Stimme des Priesters die Liturgie vorträgt und über das Leben meiner Mutter spricht, überwältigt mich beinahe. Ich stehe in der Mitte meines Schranks und halte den Atem an, um das Niesen zurückzudrängen.
    Am Busdepot im Stadtzentrum hebt Vern meinen Koffer von seinem Pick-up-Truck herunter. Das rosafarbene Licht der Straßenlaterne dringt durch die graue, reglose Luft des frühen Morgens. Der Geruch nach Papierbrei, der an faule Eier erinnert, rückt uns buchstäblich auf den Leib. Wer schon lange in Prince George lebt, scheint gegen den penetranten Geruch der Papiermühle immun zu sein; bisweilen vergesse auch ich ihn. Aber an den Herbstmorgen, wenn die kalte, dichte Luft auf die schlafende Stadt herabdrückt, ist der Gestank so stark, dass man ihn fast schmecken kann.
    Als hätte er meine Gedanken gelesen, rümpft Vern die Nase. »Mephitisch«, sagt er und meint den üblen Geruch.
    Und so klar, als könnte ich mich einfach umdrehen und ihn im Morgennebel stehen sehen, höre ich Boyers jugendliche Stimme, wie sie sagt: »He, das ist ein Zehnpennywort für dich, Nat.«
    Am Schalter verlange ich eine Fahrkarte nach Atwood. Die verschlafen aussehende Bedienstete trägt eine blau gestreifte Bluse mit einem in roten Buchstaben gestickten Namen auf der Brusttasche. Brenda.
    »Atwood?«, wiederholt Brenda. Es ist klar, dass sie diesen Namen noch nie gehört hat. Wie sollte sie auch? Die ehemalige Bergarbeiterstadt, die sich zu einem Skiort gemausert hat, ist mit weniger als dreitausend Einwohnern nicht unbedingt ein erstklassiges Reiseziel. Während sie auf den Computertasten herumhämmert, runzelt sie die Stirn, und ich vermute, dass sie Atwood gefunden hat. »Einfache Fahrt oder hin und zurück?«
    »Hin und zurück«, antworte ich. Oh ja, wieder zurück. Hoffentlich bald. Dann merke ich, was bald bedeuten könnte, und mich überkommt ein heftiges Schuldgefühl.
    »Einhundertvierzig Dollar«, sagt sie und fällt wieder über den Computer her. »Sie haben zwei Stunden Aufenthalt in Cache Creek …«
    Ich bezahle meine Fahrkarte und gehe wieder zu Vern, der draußen wartet. Er hat meinen Koffer vor dem einzigen besetzten Busparkplatz abgestellt. Die Bustüren sind geschlossen, und ich kann nicht durch die verdunkelten Fensterscheiben sehen. Ich hoffe, der Bus ist nicht voll. Ich möchte nicht neben jemandem sitzen und zu Small Talk verurteilt sein.
    »Ich will für dich da sein«, wiederholt Vern. Er nimmt meine
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