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Milchblume

Milchblume

Titel: Milchblume
Autoren: Thomas Sautner
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das Feld, das sie beackerten, so oder so nicht mehr Früchte tragen, und das Brot, das sie aßen, so oder so nicht saftiger werden. Es war zum aus der Haut fahren. Jakob erkannte den Zweck dieser Gehässigkeiten nicht. Und sogar wenn es einen geben sollte, woran Jakob immer stärker zweifelte, würde er so viel schweres Blut wert sein? Vielleicht lag sein Unverständnis ja auch wieder einmal darin begründet, sagte er sich, dass er tatsächlich das war, was alle in ihm sahen: ein weltfremder Idiot.
    Obgleich sich Jakob, anders als seine jüngeren Brüder Hans und Fritz, nicht an den Gehässigkeiten zwischen Großeltern und Eltern beteiligte – meist waren es Sticheleien und kleine Bosheiten – verursachten sie ihm jedes Mal körperliches Unbehagen. Die dicke Luft in der Stube schnitt ihm den Atem ab und ließ seinen Körper unerträglich heiß werden. In ihm wuchs der Drang, sofort den engen Raum zu verlassen, um nicht auf der Stelle ohnmächtig zu werden. Da Flucht aber selten möglich war, weil Vater ihn nicht vom Tisch oder der Küchenarbeit entließ, hatte sich Jakob darauf verlegt, Ablenkung zu suchen, sobald die anderen die Zeit vergifteten. Er hatte sich angewöhnt, seine Gedanken mit Sinnvollem zu beschäftigen, mit Schönem. Meistens mit Silvia. Ihr Wesen und ihr Anblick vereinten für ihn das feinste, entzückendste und edelste nur Vorstellbare. Jakob kannte ein Wort, das seine Gefühle für Silvia sehr gut ausdrückte: Liebe. Als er eines Abends gründlich nachdachte, stellte er fest, dass er für niemand anderen ein derartiges Gefühl empfand. Nicht für seine Eltern, seine Brüder, die Großeltern, ja nicht einmal für die Hunde, Schweine, Krähen und Raben, mit denen er sich so gut verstand. Es bestand kein Zweifel: Jakob war ausschließlich in Silvia verliebt, auf eine unschuldige, reine Art freilich. Schließlich war Silvia mit ihren sechzehn Jahren sechs Jahre jünger als er und obendrein seine Schwester. Schon alleine deshalb würde er es nie wagen, sich ihr zu nähern. Noch viel mehr aber deshalb nicht, weil sie viel zu fein, zu edel, ja zu heilig war für ihn, eigentlich zu heilig für die ganze Welt, fand Jakob.
    Auch an diesem Abend zog er es vor, sich nicht der feindseligen Stimmung auszusetzen, die sich in der Stube breit und breiter machte und die ihm kaum noch Platz zum Atmen ließ. Jakob flüchtete sich in Silvias Gesicht. Verlor sich im Glanz ihrer himmelblauen Augen, in ihren Sommersprossen, ihrem Haar, das sie wie immer zu einem Zopf geflochten hatte, und in den Grübchen, die sich in ihren Wangen bildeten, sobald sie lächelte.
    Alles andere rund um sich vergaß Jakob. Das ließ ihn gleichsam in den Himmel schweben. Seine Ohren wurden taub für Irdisches, vernahmen nur noch Gemurmel. Seine Augen kannten nur noch Silvia, badeten in ihrem Antlitz und ließen sich darin treiben wie in einem Sommerteich. Jakob genoss es in seinem Himmel, wunderbar lange Momente, eine herrlich sanfte Zeit. Doch plötzlich fiel ihm auf, dass sich Silvias Ausdruck verändert hatte, sie ihm ihr Gesicht zuwandte, mit dem Finger in eine Richtung deutete und ihre Augen alarmierend groß wurden. Gleichzeitig spürte Jakob unter seinen auf der Tischplatte ruhenden Händen ein dumpfes Dröhnen. Kurz darauf donnerte der Seifritz-Bauer abermals seine Faust auf die Tischplatte.
    »Schau die Silvia gefälligst nicht so verliebt an, du Trottel!«, brüllte er. »Das ist deine Schwester, du Hornochs!«
    Jakob zuckte zusammen.
    »Eine Sünde ist es«, ermahnte ihn die Bäuerin, doch nicht in bösem Ton. »Weißt du das eh, Jakob?«, fragte sie. »Unter Geschwistern ist es eine Sünde. Eine Sünde, die der Herrgott schwer bestraft.«
    »Wenn du sie auch nur einmal anrührst«, tobte der Seifritz-Bauer und drohte, einer Gewohnheit folgend, mit der Hand, um seiner Aussage Nachdruck zu verleihen. »Wenn du sie nur einmal anrührst«, wiederholte er, »brech ich dir alle Knochen!«
    Jakob blieb ruhig sitzen. Er nickte. Dass sie böse zueinander sind, daran finden sie nichts, dachte er verwundert, aber dass ich Silvia lieb anschaue, das halten sie nicht aus. »Komisch«, sagte er, doch das war nicht für die anderen gedacht. Er suchte nur nach einer Erklärung für eine seiner Beobachtungen. Vielleicht, probierte er einen Gedanken aus, vielleicht ist ihnen die Liebe so fremd geworden, dass sie misstrauisch werden, wenn sie ihnen woanders auffällt.
    »Was ist komisch?«, schrie der Bauer, der das halblaute »Komisch« des
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