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Mercy, Band 2: Erweckt

Mercy, Band 2: Erweckt

Titel: Mercy, Band 2: Erweckt
Autoren: Rebecca Lim
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schwarz-weißen Vogel über mir. Ich glaube nicht, dass ich so einen schon mal gesehen habe, aber was heißt das schon? Der Vogel hat etwa die Größe einer Krähe und äugt streng zu mir herunter, bevor er seine Flügel ausbreitet und davonfliegt.
    Ich weiß, dass ich irgendetwas vergessen hab e – etwas Wichtiges. Während ich mein lückenhaftes Gedächtnis nach Spuren dieses glitzernden, flüchtigen Traums durchforste, breitet sich ein dumpfer, pochender Schmerz in meinem geborgten Schädel aus. Vielleicht bekomme ich eine Migräne wie damals, als ic h … Lucy war.
    Bei dem Namen ziehe ich scharf die Luft ein.
    Ich hangle mich an dem Gedanken weiter und fange eine Reihe von Erinnerungsfetzen au f – Ex-Drogensüchtige, die es geschafft hat, clean zu bleiben, krankes Baby, überstürzte Flucht aus der Stadt.
    Das bringt mich auf einen zweiten Namen, Susannah, der eine neue Reihe zusammenhangloser Wörter und Bilder in meinem Kopf freisetz t – Mädchen aus reichem Haus, hypochondrische Mutter, College weit, weit we g – und schließlic h … Carmen Zappacosta.
    Der Name durchfährt mich wie ein Blitz, hinterlässt statisches Rauschen in meinem Kopf, mein Nervensystem ist völlig übersteuert. In mir herrscht Chaos: Heulen in den Ohren, Dunkelheit in den Augen, ein schreckliches Übelkeitsgefühl, Landminen, die in meiner Hirnrinde explodieren. Keine Worte, keine Bilder, nur Wut, Schmerz, Blu t – und aus. Als hätte ich eine Art Stolperdraht im Kopf. Ich gebe auf, jage nicht länger den Erinnerungen an Carmen Zappacosta nach, und allmählich nimmt die Welt wieder Farbe an. Alltägliche Geräusche und Szenen dringen in mein Bewusstsein und das Pochen in meinem Schädel verebbt.
    Zumindest weiß ich jetzt, dass sich die Grundregeln irgendwie geändert haben müssen. Meine Zeit als Carmen ist tabu , und ich weiß nicht, warum.
    Mein Atem wird ruhiger, meine verkrampften Finger lockern sich. Unauffällig blicke ich zu der Frau und dem Skater-Typ, die neben mir stehen, aber keiner der beiden beachtet mich. Die Frau starrt abwesend vor sich hin und der Typ ist in ein wildes Luftgitarren-Solo vertieft.
    Mir tränen noch die Augen von der Lightshow in meinem Kopf, als ich Lelas Rucksack auf den Schoß nehme und mit zitternden Händen darin herumwühle, auf der Suche nach einem Hinweis, was ich hier zu tun habe. Ich kann nicht anders, kann einfach nicht stillhalten. Kann nicht mit dem Strom schwimmen, dem Unheil seinen Lauf lassen, nach dem Motto: Shit happens . Das ist nicht meine Art. Ich brauche einen Daseinszweck und wenn ich ihn mir selbst schaffen muss.
    Meine Finger ertasten im Rucksack die harten Ränder eines Portmonees, eine Packung Pfefferminzbonbons, einen kleinen Schlüsselbund, ein zerknülltes Papiertaschentuch, ein zerfleddertes Taschenbuch, ein kleines Handy, eine leere Trinkflasch e – und ein Notizbuch.
    Ich hole es heraus. Es ist ein kleines braunes Spiralheft, das von einem schwarzen Gummiband zusammengehalten wird. Der Deckel ist aus steifer, recycelter Pappe und unter dem Gummi steckt ein Plastikkugelschreiber. Ich ziehe ihn heraus und werfe ihn in den Rucksack zurück, dann löse ich das Gummiband und blättere die eng beschriebenen Seiten durch. Viele Stellen sind dick unterstrichen, und hin und wieder taucht ein Datum oben auf. Der letzte Eintrag ist vom 1 . Dezember. Der erste vom 23 . August. Es ist Lelas Tagebuch.
    Ich fange an zu lesen:
    Du kommst auf die Welt und glaubst, dass dir alle Wege offen stehen. Dann erwachst du eines Tages, bist neunzehn, warst nirgends, hast nichts gesehen, nichts erreicht und nichts gemacht, was der Mühe wert wäre.
    Andy hat mich nicht geküsst, als ich ihm sagte, dass ich gehe, und jetzt ist es zu spät . Er hat auch nicht angerufen oder mir über Daniela eine Nachricht zukommen lasse n – nichts, und dabei weiß er doch, was ich für ihn empfinde. Empfunden habe , dieser verdammte Mistkerl.
    Ich werde ihn nie wiedersehen. Wie in aller Welt soll ich das aushalten?
    Wenn ich gewusst hätte, dass ich mal so enden würd e – Kaffee und Frühlingsrollen an Bürotypen, Taxifahrer, Stripperinnen, Rucksacktouristen und Obdachlose verkaufen. Nein, wirklich: So habe ich mir mein Leben nicht vorgestellt.
    Ich ersticke. Ich glaube, ich sterbe in meinem eigenen Körper ab, jeden Tag ein bisschen mehr.
    Der nächste Eintrag ist vom 24 . August:
    Ich muss eine Bank ausrauben.
    Und dann? Was habe ich davon? Ich brauche einen rettenden Engel, der kommt und Mum betreut,
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