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Menschenkinder

Menschenkinder

Titel: Menschenkinder
Autoren: Herbert Renz-Polster
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Frucht – und Blattarten ihrer Umgegend essbar und nährstoffhaltig sind, wann sie sich wo finden lassen, auf welche Weise Wurzeln und Knollen auszugraben sind, wie sich die essbaren Teile einer Pflanze am besten von den nicht essbaren trennen lassen. Sie müssen auch wissen, wie sie manches Sammelgut so verarbeiten,
dass es essbar wird oder einen höheren Nährwert erhält«, so der Ethnopsychologe Peter Gray vom Boston College, USA. Von wegen, da gab es wenig zu lernen!
    Optimale Erziehung?
    Ganz sicher illustriert dieser Ausflug in die Vergangenheit aber auch das: Was genau es für Kinder im Verlauf ihrer Entwicklung zu lernen gab, war ganz unterschiedlich. Der Sohn eines Robbenfängers in der Arktis hatte einen anderen »Lehrplan« zu bewältigen als ein Indianer im Hochland der Anden. Das ist auch noch heute so. Die Kindheit eines türkischstämmigen Kindes in einem Plattenbau in Berlin unterscheidet sich enorm von der eines Kindes in einer Arztfamilie in München. Und das gilt auch für die »Erziehung«, die beide erfahren: Erziehung ist Teil von dem, wie wir leben und wer wir sind. Kein Wunder also, dass man genauso wenig nach Rezept erziehen kann, wie man nach Rezept leben (oder gar eine Ehe führen ...) kann. Wenn man das könnte, wären wir ja alle diese tollen, gesunden und überaus inspirierten Typen, die uns die Ratgeber als Vorbilder vor die Nase halten (und Scheidungen gäbe es auch keine).
    Den Weg zur »richtigen« Erziehung muss jeder selbst finden. Und das ist gut so. Denn der Rahmen, in dem wir leben, denken und arbeiten, wird ja immer neu geschaffen, mit jeder Generation, in jeder Gesellschaft, jeder sozialen Schicht, jeder Familie. Ein auf das Leben gut vorbereitetes Kind – das ist an jedem Ort und zu jeder Zeit ein anderes: ein Kind in Freising, Bayern, muss anders ticken als ein Kind in Frei Sing, China. Und unser Kind in Freising, Bayern, ist heute ein anderes Kind als eines in Freising anno 1912.
    Eindeutig: Erziehung ist kein Naturprodukt, sie ist eine permanente Neuerfindung. Es gibt beim Menschen so wenig eine Ur-Erziehung, wie es eine Ur-Sprache gibt.
    Gut vorbereitet
    Und doch baut die kindliche Entwicklung auf den immer gleichen Elementen auf. So wie gänzlich verschiedene Sprachen doch eine gemeinsame »Tiefenstruktur« besitzen, so beruht auch die gelungene Entwicklung eines Menschenkindes auf einer immer gleichen Tiefenstruktur an Erfahrungen. Dieses Buch handelt von diesen grundlegenden Erfahrungen – ich habe sie als »artgerechte« Bedingungen bezeichnet: eine verlässliche frühkindliche Bindung etwa, reichhaltige soziale Erfahrungen unter Kindern und selbstgesteuertes Lernen, um drei wichtige Facetten aufzugreifen (siehe Kapitel »Die richtige Förderung«, Seite 90).
    Kinder, die durch die äußeren Umstände oder durch die Erziehung in diesen Erfahrungen beschnitten werden, haben es mit ihrer Entwicklung schwerer. Das gilt in Freising genauso wie in Frei Sing. Kinder, die nicht mit ihresgleichen spielen dürfen, werden ängstlich und verzagt – schon immer, egal wo, und auch heute noch. Kinder, die als Säuglinge keine verlässlichen Beziehungen erfahren, haben es auch im Erwachsenenleben mit ihren Beziehungen schwerer, schon immer und auch heute noch. Was Kinder stärkt, was sie fit macht und gesund erhält – da reden auch heute noch unsere Anlagen mit, wie sie sich als Antwort auf die Herausforderungen der Vergangenheit entwickelt haben.
    Das heißt nicht, dass wir es mit unseren Kindern so machen müssen wie »früher«. Und das heißt auch nicht, dass wir unseren Kindern nicht Ziele setzen dürfen, die über das ursprüngliche Repertoire der Kinder hinausgehen: von Latein bis Word for Windows. Das ist nicht »unevolutionär« – es liegt in der Natur des Menschen, dass er Kultur schafft, unerwartet Neues also. Die Moderne will gestaltet sein, mit neuen Mitteln, neuen Techniken, neuem Denken. Jede Gesellschaft, jede Familie setzt ihren Kindern Ziele, ob bewusst oder unbewusst, und das ist gut so.
    Die Winde kennen
    Wir sollten uns jedoch klar darüber sein, wo diese »neuen« Forderungen mit den »alten« Erwartungen kollidieren. Kinder können die neuen Wege nur gehen, wenn sie sich auf die angestammte Tiefenstruktur ihrer Entwicklung verlassen können. Dieses Fundament macht sie stark und für die menschliche Gemeinschaft kompetent. Das ist – aus meiner Sicht – auch heute noch ihr größter Schatz. Ja, ich will es sogar so formulieren: Gerade weil unsere
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