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Menschenkinder

Menschenkinder

Titel: Menschenkinder
Autoren: Herbert Renz-Polster
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angeblich vernunftbegabte Mensch mehrheitlich nicht zweifeln wollte. Jedes Jahr rücken wir ein Stückchen näher an den evolutionären Zapfenstreich für unsere Art. Wie deprimierend, wenn Kinder darauf programmiert wären, in die Fußstapfen ihrer Eltern zu treten! Wie deprimierend, wenn wir Großen automatisch die Helden im Skript unserer Kleinen wären!
    Welche Vorbilder?
    Heißt das, dass Kinder sich nicht an Vorbildern orientieren?
    Nein, ganz sicher heißt es das nicht, im Gegenteil. Kinder benutzen für ihr Lernen ja eine simple Taktik: Sie beobachten und sie tun. Sie brauchen Vorbilder. Allerdings: Sie suchen sich ihre Vorbilder nach einem eigenen System aus. Sie beobachten nicht wahllos, sondern »gewichtet«.
    Das lässt sich schon an anderen in Sozialverbänden lebenden Primaten beobachten, wie etwa bei den Meerkatzen-Affen. Die Jungtiere lernen ihre Strategien zur Futtersuche vor allem von
weiblichen Gruppenmitgliedern, die das Territorium der Gruppe gut kennen – die eingewanderten Männchen akzeptieren sie als Vorbilder nicht.
    Menschenkinder gewichten noch viel stärker – je nach Alter, Geschlecht und nach der zu meisternden Entwicklungsaufgabe benutzen sie einen anderen Filter vor der Linse. Geschwister etwa können die Eltern als Vorbilder durchaus übertrumpfen, wie Experimente rund um das Thema »Essensvorlieben« belegen. Und vom Kleinkindalter an sind die Kinder in der Kindergruppe als Vorbilder unschlagbar wichtig – aber auch das nicht wahllos, sondern, wie sich etwa an der Auswertung von Blickkontakten zeigen lässt, abhängig vom Geschlecht und vom Ansehen, das ein Kind in der Gruppe genießt. Im Grunde können wir uns das Kind also wie eine Art sozialer Geigerzähler vorstellen, der seine Umwelt ständig nach einem passenden Lernangebot durchsucht und aus dem Vorgefundenen seine Schlüsse zieht – seine Schlüsse, wohlgemerkt.
    Das erklärt auch das Phänomen des Generationenkonflikts. Anders als manchmal angenommen sind Konflikte zwischen den Generationen nicht naturgegeben. Zwar haben die Alten wohl immer etwas an den Jungen auszusetzen – aber zwischen manchen Generationen gibt es deutlich mehr Zoff als zwischen anderen. Derzeit ist eher Friede angesagt – Eltern besuchen die gleichen Konzerte wie ihre Kinder, Mütter tragen auch gerne bauchnabelfrei und haben in etwa die gleichen Lebensziele. Da traut man sich kaum an die Generation zuvor zu denken (meine Generation), wo so ziemlich alles Anlass zu Zoff gab – von der Länge der Haare bis zur politischen Anschauung. Liegt das daran, dass die Kinder heute »besser erzogen« sind? Oder dass sich die Alternativ-Generation von ihren Nazi-Vätern emanzipieren musste? Eher nicht, die Alternativbewegung war in allen westlichen Industrieländern fest verankert.
    Schon eher kam der Zoff daher, dass sich in dieser Zeit die Gesellschaft und da insbesondere die Arbeitsbedingungen sehr schnell verändert haben – schneller als zu jeder anderen Zeit der
jüngsten Geschichte. Aus der hierarchischen Industrie – und Akkordarbeiterwelt wurde eine Dienstleistungsgesellschaft, in der nicht Unterordnung, sondern Eigeninitiative, Selbstständigkeit und Teamarbeit gefragt war. Und niemand merkte das schneller als die Jugend. Deren Aufgabe ist nun einmal die: die Antennen ganz weit auszufahren, um rasch zu erkennen, wohin die Reise geht, die ja ihre Lebensreise sein wird.
    Eigenerziehung, wie gesagt.
    Das evolutionäre System
    Gehen wir noch einmal zurück zur evolutionären Perspektive. Da liegt ein Einwand doch nahe: Dass für Kinder bei der Erziehung ursprünglich so viel Eigenleistung vorgesehen war, könnte ja daran liegen, dass es ursprünglich einfach nicht so viel von anderen zu lernen gab!
    Das stimmt nicht. Auch in Jäger – und Sammlergemeinschaften haben Kinder ein enormes Lernpensum zu bewältigen – und das schon deshalb, weil es dort nur wenig Arbeitsteilung gibt. Statt sich auf eine bestimmte Lebensaufgabe zu spezialisieren, muss jedes einzelne Kind sich einen Großteil des bekannten Kulturwissens aneignen. Um zu angesehenen Jägern zu werden, müssen sich etwa die Jungs mit der Lebensweise von bis zu 300 verschiedenen Säugetier – und Vogelarten auskennen, vielfältige Jagdwerkzeuge herstellen, Hütten bauen können, das Terrain und das Wetter kennen, die Mythen, Musik, Tänze und Geschichten ihres Stammes teilen können, und vieles mehr. »Die Mädchen müssen lernen, welche der zahllosen Wurzel-, Knollen-, Nuss-, Samen-,
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