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Mensch ohne Hund: Roman (German Edition)

Mensch ohne Hund: Roman (German Edition)

Titel: Mensch ohne Hund: Roman (German Edition)
Autoren: Håkan Nesser
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hatte gut hundert Seiten gelesen, und bis jetzt war sie noch auf keinen Hund gestoßen. Aber vielleicht war gerade das beabsichtigt? Vielleicht sollte ja überhaupt gar kein Hund auftauchen.
    Sie blätterte um.
    Maria und John (sie waren offensichtlich so eine Art Hauptpersonen in dem Buch, Kristina war schon früher auf sie gestoßen) beschlossen, ein ganzes Jahr nicht miteinander zu sprechen, und auf diese Art brachten sie die Hülle ihrer Hoffnungslosigkeit zum Platzen. Die menschliche Sprache ist das unvollkommenste aller Instrumente der Seele, sie ist eine Hure, ein Wucherer und ein Jahrmarktsgaukler, und wenn John schweigend seine Frau von hinten betrachtete, hatte sie bereits nach wenigen Monaten gelernt, diesen Blick zu spüren.
    Noch merkwürdiger. Walter, mein armer Bruder, dachte sie. Was hast du eigentlich alles durchgemacht? Wenn wir in dieser Nacht wieder Kinder wären, könnten wir dann neue, andere Wege finden?
    Sie schüttelte den Kopf. Auch die eigenen Worte erschienen ihr fremd. Huren und Jahrmarktsgaukler ? Ja, warum nicht. Die Gedanken wühlten wie ratlose Schlangen in ihr herum, und jetzt zappelte das Kind.
    Ich werde gezwungen sein, es wegzugeben, kam ihr plötzlich in den Sinn. So wird es kommen. Man wird mir mein Kind wegnehmen.
    Wenn ich es nicht weit fort in einem fremden Land verstecke.
    Panik begann sich in ihr auszubreiten. Wie soll ich diese Nacht überstehen?, dachte sie. Soll ich hier sitzen und bis zur Morgendämmerung wach bleiben? Warum habe ich nicht wenigstens eine Schlaftablette in meiner Kulturtasche?
    Und was heißt hier Morgendämmerung? Es wird gar nicht die Rede von einer Morgendämmerung sein. Das Flugzeug soll um halb acht starten, dann wird es noch kohlrabenschwarze Mittwinternacht sein, bis wir über die Wolken kommen. Einchecken spätestens um sechs. Sie las weiter:
    Als John noch ein Kind war, glaubte er lange Zeit, dass er am falschen Platz war. Er wäre auf irgendeine Art vertauscht worden, seine Mama wäre gar nicht seine Mama und sein Papa nicht sein Papa. Es war ein Irrtum im Krankenhaus passiert, und eines Tages würde man den Fehler entdecken, und dann würde John dorthin zurückgebracht, wo er eigentlich wirklich hingehörte. Das war ein dunkler, feuchter Ort ohne richtige Menschen; die Gegend wurde von Wesen mit langem Fell und Hörnern, aber ziemlich menschenähnlichen Gesichtern, bevölkert. Und sie konnten die menschliche Sprache sprechen. John träumte oft von ihnen, und er liebte sie. Eines Tages fragte er seine Mutter, wann sie endlich kommen und ihn holen würden. Ja, er stellte diese Frage seiner Mutter, aber sein Vater war zu dem Zeitpunkt auch anwesend, und er war es, der dem Sohn eine Ohrfeige verpasste. Sie brannte noch lange, bis ins Erwachsenenalter hinein konnte er ab und zu eine schwache Erinnerung auf der Wange spüren, besonders an dunklen und feuchten Tagen.
    Sie schob die Papiere zur Seite, merkte, dass auch das zu viel für sie wurde. Walters Worte gaben ihr keinen Halt. Ganz im Gegenteil, sie schienen eine Art Atemnot in ihr hervorzurufen. Etwas Klaustrophobisches, wie eine … ja, wie eine Gebärmutter in der Gebärmutter selbst. Eine Dunkelheit in der Dunkelheit.
    Sie warf einen Blick auf den Fernsehapparat. Die digitalen Ziffern informierten sie darüber, dass die Wirklichkeit im Augenblick bei 00.32 Uhr angekommen war. Jedenfalls brannte es jetzt hinter den Augäpfeln. Sie überprüfte ihr Handy, dass sie es auch auf 05.00 Uhr Weckzeit gestellt hatte, dann löschte sie das Licht und ging zurück zum Bett. Legte vorsichtig eine Hand auf Kelvins Brust.
    Gütiger Gott, schenke mir ein wenig Schlaf, bat sie. Lass mich von meinem Bruder träumen. Lass mich einfach hier in meinem Kokon mit meinen Kindern liegen und hundert Jahre lang von Walter träumen. Aber nicht von seinen Worten.
    Vielleicht auch von Henrik. Einen schönen Traum von Henrik.
    Sie hatte nur wenig Hoffnung, erhört zu werden, aber zehn Minuten später war sie dennoch in den Schlaf gefallen.
     
    Gunnar Barbarotti kippte noch einen Schluck lauwarmen Kaffee in sich hinein und starrte den Kollegen an.
    Er hieß Hellgren, vielleicht auch Hellberg, er hatte es vergessen, aber er hatte ein blaues und ein braunes Auge, was dazu führte, dass Barbarotti ihn unter fünfzigtausend Polizisten wiedererkennen würde. Wenn das aus irgendeinem Grund notwendig sein würde.
    Aber momentan schien es keineswegs nötig zu sein. Es war fünf Minuten vor drei in der Nacht, der Ort das
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