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Memento - Die Überlebenden (German Edition)

Memento - Die Überlebenden (German Edition)

Titel: Memento - Die Überlebenden (German Edition)
Autoren: Julianna Baggott
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giftig ist. Dass einige von ihnen demnächst sterben werden. El Capitán legt die Hände auf den Tresen unter dem Fenster, um das Gewicht seines Bruders besser zu verteilen. Von hier aus kann er ein paar Überreste des alten Highways erkennen. Der Friedhof der Anstalt war auch irgendwo da draußen. Einmal war er während eines Gewitters mit seiner Mutter da. Sie wollte sich ihr Grab aussuchen. Er blieb vor dem Tor im strömenden Regen stehen und wartete auf sie. Er hielt Helmud an der Hand, weil sein kleiner Bruder Angst hatte vor den Blitzen. Auf dem Nachhauseweg sagte sie: »Ich brauche bestimmt so bald kein Grab. Ich sterbe als alte Frau. Lass den Kopf nicht hängen.« Doch sie hatte schon einen Termin in der Anstalt wegen ihrer Lungen. Das Datum stand fest, und sie waren nicht sicher, ob sie zurückkehren würde. »Du bist der Chef, bis ich zurück bin«, sagte sie zu El Capitán. »Du trägst die Verantwortung.« Und das tut er seitdem. Mehr noch, er ist Helmud. Wenn er Helmud hasst, dann hasst er sich selbst. Und wenn er seinen Bruder liebt? Funktioniert es auch andersrum? Die Wahrheit ist, dass Helmuds Gewicht ihn nur stärker gemacht hat. Es hält ihn auf dem Boden, und er ist sicher, ohne Helmud wäre er inzwischen längst vom Planeten geschwebt.
    Helmud spürt die Rippen seines Bruders zwischen den Knien, sein Herz, das vor dem eigenen schlägt. Er sagt: »Runter … weiterfahren. Auf dem Wind … steig ein.« Das Herz seines Bruders wird für immer jeden Ort einen Schlag vor seinem eigenen Herzen erreichen. So wird er seinen Weg durch die Welt machen – das Herz seines Bruders, ein Schlag, dann seines. Ein Herz auf einem Herzen. Ein Herz führt. Ein Herz folgt. Zwillingsherzen, aneinandergefesselt.
    Bradwell erinnert sich an das Lied. Art Walrond, der trunksüchtige Physiker, der vertrauensselige Informant seiner Eltern, ließ es immer in seinem Cabrio laufen. Bradwell erinnert sich, wie er mit Walrond und dem nach Walrond benannten Hund umhergefahren ist und wie der Wind ihre Haare zerzaust hat. Walrond ist lange tot, genau wie Bradwells Eltern. Willux kannte Bradwells Eltern. Was hätte Ingership gesagt, wäre er noch am Leben? Bradwell wünschte, er wüsste es. Doch er denkt nicht allzu lange darüber nach, denn Pressias Stimme reißt ihn in die Gegenwart zurück. Sie hat die Wange gegen seine Brust gepresst, und er spürt das Lied auf seiner Haut. Die zarten Vibrationen, die Bewegungen ihres Kiefers, die Sehnen in ihrem Nacken, die Stimmbänder – das zerbrechliche Instrument, das in ihrer Kehle klimpert. Eine Erinnerung hat sich gebildet und wird auf seiner Haut bleiben: ihr leises, schnelles Atmen, jeder Ton in die Länge gezogen, das Lied, das über ihre Lippen schwebt, die Augen für die Zukunft verschlossen. Es ist ein Schwelgen, der Gedanke an diese Zukunft, und er würde es nicht tun, wäre da nicht Pressia. Was, wenn sie es schaffen, das Kapitol zu besiegen? Könnte er mit ihr zusammenbleiben? Mit ihr leben? Kein Hund, kein Cabrio, kein Kinderzimmer mit Schiffchentapete an den Wänden, sondern mehr als all das zusammen.
    Partridge muss weg hier. Er kann es nicht länger ertragen. Seine Mutter ist tot, und er hört ihre Stimme aus Pressias Mund.
    Lyda streichelt ihm über den Arm.
    Er schüttelt den Kopf und zieht den Arm weg. »Nein.« Er muss allein sein.
    Er verlässt das Zimmer. Durchquert den Flur. Dort ist eine Tür. Er öffnet sie und findet sich im Kommunikationsraum wieder. Hell beleuchtet, sämtliche Geräte arbeiten, ein riesiger Bildschirm, der einen leeren blauen Hintergrund zeigt, eine Konsole voller Instrumente, Kabel, Tastatur, Lautsprecher.
    Er hört die Stimme seines Vaters Befehle erteilen. Andere Menschen antworten ihm. »Jawohl, Sir. Sofort, Sir.« Und dann sagt jemand: »Jemand ist da.«
    »Gottverdammt, Ingership!«, sagt die Stimme seines Vaters. »Endlich!«
    »Ingership ist tot«, sagt Partridge.
    Das Gesicht seines Vaters erscheint auf dem Bildschirm vor dem blauen Hintergrund, seine wässrigen, unsteten Augen, der leicht gelähmte Kopf, die Hände auf der Konsole vor sich ausgebreitet. Eine Hand ist tief gerötet und roh, als hätte er sie sich kürzlich verbrüht. Er sieht blass und kurzatmig aus. Seine Brust ist eingefallen. Mörder.
    »Partridge«, sagt sein Vater leise. »Partridge, es ist vorbei. Du bist einer von uns. Komm nach Hause.«
    Partridge schüttelt den Kopf.
    »Wir haben deinen guten Freund Silas Hastings, und dein Freund Arvin Weed war uns sehr
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