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Memento - Die Überlebenden (German Edition)

Memento - Die Überlebenden (German Edition)

Titel: Memento - Die Überlebenden (German Edition)
Autoren: Julianna Baggott
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schreit Bradwell. »Sag mir, was Willux über sie erzählt hat!«
    Ingership kneift die Augen zusammen. »Frau!«, ruft er ein weiteres Mal.
    Sie steckt die Fingernägel in den Riss ihres Ganzkörperstrumpfs an der Wange und reißt sich das Material vom Gesicht. Sie stößt einen lauten Schrei aus, als sie die Perücke herunterreißt und darunter feines, mattbraunes Haar zum Vorschein kommt. Ihr Gesicht ist bedeckt mit alten Narben, aber auch mit frischen Schwellungen, neuen Narben und Verbrennungen. Sie muss früher sehr schön gewesen sein.
    »Frau!«, ruft Ingership am Boden liegend. »Hol die Pillen, schnell!«
    »Sie sind wertlos«, sagt Partridge.
    Ingership dreht sich auf die Seite. »Frau, komm her. Ich brauche dich. Ich brenne!«
    Ingerships Frau torkelt zur Wand. Sie lehnt sich mit der Wange dagegen und berührt die Tapete, ganz leicht, nur ein einziges Boot, nur eines.
    Für einen Moment scheint es, als wäre damit alles zu Ende. Bradwell steht auf und blickt auf Ingership hinab. Ingerships Augen starren blicklos ins Leere. Er stirbt. Bradwell wird von ihm nichts mehr über seine Eltern erfahren. Er geht zu Pressia und zieht sie an sich. Sie steckt den Kopf unter sein Kinn. Er hält sie fest an sich gedrückt. »Ich dachte, sie hätte dich umgebracht«, sagt er. »Ich dachte, du wärst tot.«
    Pressia hört seinen Herzschlag. Es ist wie ein leises Trommeln. Er lebt und Ingership ist tot, seine Augen sind leer. Sie denkt an ihren Großvater und seine Arbeit als Leichenbestatter, und sie hat das Gefühl, als müsste sie ein Gebet über dem Toten sprechen, doch sie kennt keine Gebete. Ihr Großvater hat ihr erzählt, dass sie früher bei Beerdigungen gebetsartige Gesänge gehabt haben. Er hat ihr erzählt, die Gesänge wären als Trost für die Hinterbliebenen gedacht gewesen, um ihnen zu helfen, über den Verlust hinwegzukommen. Sie kennt keinen dieser Gesänge. Sie denkt an das Lied, das ihre Mutter für sie gesungen hat. Das Schlaflied. Das Kinderzimmer ohne Baby darin lässt sie an ihre Mutter denken, das Bild, das sie auf dem Monitor gesehen hat, die Aufzeichnung ihrer Stimme. Und Pressia öffnet den Mund und singt leise.
    Pressias Gesang überrascht Partridge nicht. Es ist, als hätte er seit vielen Jahren darauf gewartet, ihn zu hören. Ihre Stimme ist schwer von Trauer, und es dauert einen Moment, bis Partridge die Melodie erkennt. Dann dämmert es ihm – es ist das Lied, das seine Mutter abends für ihn und Sedge gesungen hat. Das Schlaflied, das gar kein Schlaflied war. Sondern eine Liebesgeschichte. In Pressias Gesang hört er die Stimme seiner Mutter. Sie singt von einer zugeworfenen Verandatür, von einem im Wind wehenden Kleid. Er erinnert sich an die Nacht des Balls, das Gefühl von Lydas Atem unter dem eng sitzenden Kleid. Sie scheint ebenfalls von dem Lied gefangen zu sein, denn sie legt ihre Hand in seine, in die verbundene mit dem fehlenden kleinen Finger. Er weiß, dass dies nicht das Ende der Schlacht ist, doch für einen Moment kann er sich wenigstens einreden, sie wäre vorbei. Er beugt sich zu ihr hinunter. »Dein Vogel«, sagt er. »Dein Drahtvogel – haben sie ihn in der Gründerhalle ausgestellt?«
    Lyda will ihn fragen, was jetzt aus ihnen wird. Wohin werden sie gehen? Was ist der Plan? Doch die Worte kommen nicht über ihre Lippen. Sie kann nur an den Drahtvogel denken, den einsamen Vogel, der so wunderbar in seinem Drahtkäfig schaukelt. »Ich weiß es nicht«, sagt sie. »Ich bin jetzt hier.« Es gibt keine Rückkehr ins Kapitol.
    Ingerships Frau heißt Illia. Sie denkt an ihren Namen, daran, wieder Illia zu sein. Sie ist nicht mehr Ingerships Frau, weil Ingership jetzt tot ist. Sie denkt an Mary, das Mädchen aus dem Lied, auf der Veranda. Geh nicht, möchte sie dem Mädchen zurufen. Das Blut ihres Mannes ist jetzt auf ihren Schuhen. Sie berührt die Boote an der Wand des Kinderzimmers und denkt an das Boot ihres Vaters und daran, wie sie es mit Eimern leer geschöpft haben, als sie noch ein kleines Mädchen war. Sie fühlt sich unsicher auf den Beinen, als stünde sie auf dem schaukelnden Boot. Sie hört ihren Vater sagen: »Der Himmel ist wie Blei. Nur ein Sturm kann ihn heilen.«
    El Capitán sieht die Soldaten an. Er kann sich denken, was sie ihm zu erzählen haben. Dass noch andere hier leben, und dass sie wahrscheinlich alle genauso geschunden wurden wie Ingerships Frau. Dass sie irgendwo draußen auf dem Land leben. Dass sie nicht viel zu essen haben, was nicht
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