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Memed mein Falke

Memed mein Falke

Titel: Memed mein Falke
Autoren: Yasar Kemal
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folgende Schweigen unterbrach Osman mit einer Frage: »Wie groß ist die Welt wohl?«
    »Riesig!« antwortete Dursun. Sie gingen weiter. Dursun fuhr fort, von seinem Dorf zu erzählen. Bald gerieten sie in ein Distelfeld. Die starken Graudisteln zerkratzten ihnen die Beine. »Jetzt muß gleich der Acker kommen, wo Memed gepflügt hat«, meinte Osman.
    »Glaubst du? Ich weiß es nicht genau«, antwortete Dursun. Von links klang Alis Stimme: »Hier ist es!«
    »Hier? Wo denn? Ja, hier muß es sein. Es riecht nach umgepflügter Erde.«
    Dursun blieb stehen, zog tief die Luft ein. »Ja, du hast recht.« Von vorn rief Osman: »Ich laufe auf umgepflügtem Boden!« Ali antwortete: »Ich auch.«
    Neben ihnen angelangt, sagte Dursun: »Jetzt müssen wir die Stelle finden, wo er zuletzt geackert hat.«
    »Die finden wir leicht«, meinte Osman. »Mich friert's«, sagte Ali.
    Dursun beschwichtigte ihn: »Zuerst müssen wir ihn finden, danach ...«
    Plötzlich rief er zurück: »Hier ist die letzte Furche! Er hat überhaupt nicht geackert heute!«
    Ali folgte ihm, sich mit den Füßen vortastend. Nachdem er entlang der Grenze des umgepflügten Landes hin- und hergegangen war, sagte er: »Wahrhaftig! Das Stück Land ist so liegengeblieben. Er hat gar nichts mehr daran gemacht.«
    »Es wird ihm doch nichts passiert sein?« meinte Dursun halb verblüfft, halb besorgt.
    Osman lachte auf. »Dem und etwas passiert, des Teufels eigenem Bruder? So einem kann doch nichts passieren.«
    »Du kennst ihn doch am besten, Onkel Dursun«, meinte Ali. »Kann dem etwas zustoßen?«
    »Allah gebe, daß es so ist! Ist ein guter Junge, der Memed, und ein armes Waisenkind ... «
    Sie setzten sich auf das gepflügte Land, während Osman Holz und Zweige zusammentrug und Feuer machte. Um die Flammen hockend, beredeten sie alle Möglichkeiten. Memed konnte von einem Wolf angefallen worden sein. Ein Räuber konnte ihm die Ochsen weggenommen haben. Noch vieles konnte geschehen sein, und sie fanden kein Ende und konnten sich für keine der vielen Möglichkeiten entscheiden.
    In Dursuns vom Widerschein der Flammen kupfern glänzendem Gesicht war der Anflug eines zufriedenen Lächelns. Das Feuer ließ nach, bis nur noch glimmende Reste von ihm übrig waren. Es war ihnen beklommen zumute. Ali stimmte ein Lied an, eine melancholische Weise, die in die Nacht hinausklang:
    »Ich schirre den Wagen vor meinem Haus
    Kummerschwer weiß mein Herz nicht ein mehr noch aus Ach, auf das heilige Buch will den Eid ich schwören
    Nie soll mein Merhaba andern als dir gehören.«
    Sie fröstelten, und Osman sammelte neues Reisig um das Feuer wieder zum Leben zu erwecken. Dursun und All halfen ihm dabei, so daß sie einen großen Reisighaufen neben dem Feuer aufschichten konnten.
    »Was machen wir jetzt?« fragte Osman. »Es hat keinen Zweck, jetzt mit leeren Händen zurückzukommen. Abdi Aga würde die Hölle über uns loslassen. Das beste ist, wir bleiben die Nacht über hier. Wenn es Tag ist, werden wir ihn schon finden.«
    »Memed finden wir sowieso nicht mehr. Der ist über alle Berge in jenes Dorf«, meinte Ali. »Ich möchte ja gern wissen, wo das sein soll, aber er hat von nichts anderem mehr gesprochen.«
    Dursun lachte nur.
    Während Ali beim Feuer Wache hielt, um es nicht verlöschen zu lassen, legten sich die beiden anderen zum Schlafen nieder. Ali saß unbeweglich und starrte in die Flammen. Einmal wandte er den Kopf vom Feuer ab ins Dunkel.
    »Er ist weg«, sprach er zu sich selbst. »Gut so. In diese Kristallstadt ist er gegangen, nach Yüreğir mit dem warmen Boden. Tausendmal recht hat er.«
    Später weckte er Osman und ließ sich von ihm ablösen. Auch er legte sich jetzt hin, bettete den Kopf auf eine Erdscholle. Bevor er einschlief, murmelte er: »Der ist dorthingegangen, der Memed, meinst du nicht, Osman? In die Gegend, von der uns Dursun erzählt hat.«
    »Ja«, sagte Osman nur.
    Alle drei erwachten gleichzeitig, als die Morgendämmerung das erste fahle Licht warf. Im Osten verteilte sich ein leichtes Rot über dem Horizont, faßte die Ränder der Wolken ein, die kurz danach in ein reines Weiß übergingen. Eine kühle, aber angenehme Morgenbrise kam auf. Bald ließ sich die Umgebung klar erkennen. Jenseits des frischgepflügten Ackerlands erstreckte sich die Distelwildnis bis an den Horizont, wo jetzt die Sonne aufging.
    Die drei erhoben sich schwerfällig in der Mitte des Feldes.
    Langsam wanderten große Schatten westwärts. Alle zugleich reckten sie
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