Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Melina und das Geheimnis aus Stein

Melina und das Geheimnis aus Stein

Titel: Melina und das Geheimnis aus Stein
Autoren: Marlene Röder
Vom Netzwerk:
Erde unter sein Kreuz, möglichst weit weg von dem grässlichen Hund. „Tut mir leid, dass ich dich heute Morgen nicht auf das Bild gemalt habe“, sage ich schnell. Das Kreuz schweigt. Irgendwo singt eine Amsel. Vielleicht ist es die, die im Frühjahr aus dieser Eierschale geschlüpft ist. „Bis bald“, verabschiede ich mich leise. „Grüß Mama von mir, wenn sie dich in ihren Träumen trifft.“
    Dann lasse ich Pippa auf meine Hand klettern und wir huschen davon.

Will
    Pippa und ich streifen kreuz und quer über den Friedhof, ohne Plan, ohne Ziel. An den Außenmauern stehen Mausoleen. Das sind Häuschen für ganze tote Familien. Gruselig. Aber manche sehen richtig schön aus, mit Bildern aus winzigen blauen und goldenen Glasscherben oder mit Figuren, die sie bewachen. Pippa und ich machen ein Spiel daraus, die schönste Figur zu finden.
    „Die da!“ Pippa deutet mit ihrem Plastikärmchen auf eine Frau aus dunklem Metall, die eine kleine Harfe in der Hand trägt.
    „Die guckt, als hätte sie Zahnschmerzen“, widerspreche ich. „Dann lieber die da … oder nein, der Engel da drüben, schau mal!“
    Ich renne zu dem Grab, das ich meine. Auf einem hohen Sockel sitzt ein lebensgroßer Junge aus weißem Marmor. Sein eines Bein hängt herunter, das andere ist angewinkelt, darauf ruht sein Kopf. Der Junge sieht aus, als würde er auf etwas warten. Den Bus oder so. Nur dass er statt normaler Klamotten ein wallendes Tuch trägt.
    „Willhelm Osterbaum“, entziffert Pippa die Schrift auf dem Sockel. „1898 bis 1911. Der ist nur dreizehn Jahre alt geworden.“
    Ich betrachte das Gesicht des Steinjungen. Er sieht nicht so aus wie jemand, der sich über eine andere Person lustig macht, nur weil sie nicht weiß, was sie in ein weißes Zeichenblatt-Rechteck malen soll.
    „Findest du auch, dass er nett aussieht?“, frage ich Pippa aufgeregt. „Wie ein großer Bruder. Nur mit Flügeln.“
    Der regennasse Marmor glänzt. Er zieht meine Hand an.
    In meinem Kopf dröhnt die Stimme von Maik, die dauernd wiederholt: „Die hat keine Freunde und sie kann nichts, die hat keine Freunde und sie kann nichts …“
    „Nein!“, ruft Pippa warnend. Sie ist an dem Efeu hinaufgeklettert, der den Sockel und die Figur umrankt, und versucht, mit ihrem ganzen Gewicht meine Hand wegzudrücken.
    „Ich will nur mal sehen, ob ich es noch kann“, murmele ich und schiebe Pippa weg. „Wahrscheinlich klappt es gar nicht …“
    Ich strecke mich, bis meine Hand den nackten Marmorfuß der Figur berührt. Pippa hat mich oft gefragt, wie es sich anfühlt, wenn ich etwas aufwecke. Es fühlt sich an, als würde ich in einem dunklen Tümpel herumtasten. Manchmal spüre ich, wie sich tief unten etwas bewegt – dann ziehe ich es an die Oberfläche.
    Doch dieses Mal passiert nichts. Die Statue bleibt glatt und kühl und leblos.
    „Siehst du“, sage ich zu Pippa. „Ich hab es verlernt.“
    In diesem Moment spüre ich etwas, verborgen im Stein. Ich hole es zu mir herauf … Der Fuß der Statue bewegt sich unter meinen Fingern!
    Ich schreie auf und plumpse rückwärts ins nasse Gebüsch.
    Der Marmorjunge räkelt sich wie jemand, der aus einem tiefen Schlaf erwacht. Langsam streift er die Efeuranken von seinen Schultern wie ich morgens meine Bettdecke. Pippa und ich starren ihn an. Alles an ihm ist weiß, wie mit Puderzucker bestäubt. Er sieht aus wie ein Geist. Ein junger Geist, der ziemlich durcheinander ist.
    Am liebsten würde ich weglaufen, aber Pippa zischt: „Du kannst jetzt nicht einfach abhauen! Du bist für ihn verantwortlich. Lass ihn wieder einschlafen! Los, berühr ihn, solange er noch benommen ist, schnell, bevor er noch was anstellt!“
    Pippa hat Recht, es wäre vernünftig, den Steinjungen sofort wieder in tiefen Schlaf zu versetzen. Aber ich kann es nicht tun. Ich will nicht.
    „Worauf wartest du, Melina?“, drängt Pippa und hüpft aufgeregt auf meinem Bauch auf und ab. „Der ist ’ne Nummer zu groß für dich!“
    Stimmt. Noch nie habe ich etwas so Großes aufgeweckt. Es ist, als hätte ich einen richtigen Menschen lebendig gemacht. Als hätte ich Superkräfte. Wenn meine Eltern das jetzt sehen könnten, Maik und Jessie, der ganze Rest der Welt! Ich achte nicht auf Pippa, die immer noch furchtbare Warnungen piepst. Stattdessen stehe ich auf und trete langsam vor den Sockel, auf dem der Junge kauert. Er starrt in meine Richtung, doch ich bin mir nicht sicher, ob er mich sehen kann. Selbst der Ring um die Pupillen, der bei
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher